VIKTOR VON WEIZSÄCKER

 (1886 - 1957)



„Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen.“

Viktor von Weizsäcker.

Der Gestaltkreis. 1940



Viktor von Weizsäcker gilt als einer der Gründerväter der Psychosomatischen Medizin in Deutschland. Sein Vater Karl von Weizsäcker war Ministerialdirektor im damaligen Königreich Württemberg und wurde in den erblichen Adelsstand erhoben. Viktor von Weizsäcker studierte Medizin in Tübingen, Freiburg, Berlin und Heidelberg. Im ersten Weltkrieg war er als medizinischer Assistent in Lazaretten tätig. Er habilitierte sich noch während des Krieges bei dem Physiologen Ludolf von Krehl über den Energiestoffwechsel, wechselte dann aber in die Neurologie. Ab 1920 leitete er zwanzig Jahre lang die neurologische Abteilung der medizinischen Universitätsklinik Heidelberg und forschte u.a. über sinnesphysiologischen Fragestellungen; 1932 formulierte er erstmals die Idee der Einheit von Wahrnehmung und Bewegung; 1940 erschien "Der Gestaltkreis". 1941 wurde er Professor, Ordinarius für Neurologie an der Universität Breslau und Leiter des dortigen Instituts für Neurologie. Während seiner Breslauer Jahre verfasste er "Natur und Geist" (1944). Seine teilweise ambivalente Haltung zum Nationalsozialismus, zur Vererbungs- und Vernichtungslehre (der damalige Heidelberger Psychiatrie-Ordinarius Carl Schneider, der heute als eine der Schlüsselfiguren der NS-Medizinverbrechen gilt, bezeichnete sie wohl als „kühl, wenn auch loyal“) haben Stoffels und Achilles in ihren „Anmerkungen zum Streitfall: Viktor von Weizsäcker und der Nationalsozialismus” aufgearbeitet. Nach der Flucht im Januar 1945, einer kurzen Zeit als Lazarettleiter in Dresden und amerikanischer Kriegsgefangenschaft, setzte sich von Weizsäcker mit den nationalsozialistischen Medizinverbrechen auseinander und distanzierte sich klar von Euthanasie. 1946 erhielt er einen neuen, eigens eingerichteten Lehrstuhl für "Allgemeine Klinische Medizin" in Heidelberg sowie eine Abteilung der Medizinischen Klinik, aus der später die heutige "Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin" hervorging. In den folgenden Jahren entwickelte er seine frühen Ideen zur Krankheitsentstehung weiter und veröffentlicht 1956 die "Pathosophie". Dieses Alterswerk stellt den leidenschaftlichen, den leidenden Menschen in den Mittelpunkt, der auch von Weizsäcker selbst war: Engagierter Wissenschaftler, Arzt und Philosoph, der zwei Weltkriege erlebte, unter und zum Teil mit den Nationalsozialisten weiterarbeitete und dessen Bruder Ernst in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, der zwei Söhne im zweiten Weltkrieg und eine Tochter durch Selbstmord verlor, und der und am Ende selbst schwer an einem bulbären Parkinsonsyndrom erkrankte. Er prägte die deutsche Medizin sicherlich nicht zuletzt auf dem Boden dieser Erfahrungen.
Der „Arztphilosoph“ Viktor von Weizsäcker begann seine Karriere als Naturwissenschaftler. Im Laufe seines Lebens wurde er allerdings mehr und mehr zum Kritiker klassischer naturwissenschaftlicher Annahmen, wie des Körper-Seele-Dualismus, des Raum- und Zeitbegriffs und des Kausalitätsprinzips. Er spricht von der "Fiktion der objektiven Naturwissenschaft" als "grundverschieden [...] zu der wirklichen Welt, in der wir leben". In der Pathosophie spricht er sogar von der naturwissenschaftlichen Medizin selbst als Krankheit quasi der Institutionen: „Krankheiten haben auch Kulturen, Politiker, Künste, Wissenschaften und Religionen“. Er dachte Zeit seines Lebens über die Bedeutung des Krank-Werdens und des Krank-Seins nach, und zwar sowohl aus der individuellen Biographie und Motivation eines Menschen, als auch aus seinem äußeren Kontext, seiner Umwelt, heraus. Er verstand Mensch und Umwelt als lebendige, dynamisch verwobene Systeme, deren Wechselwirkungen er mit Begriffen wie “Umgang”, “Gegenseitigkeit” und „Solidarität“ beschrieb. Er ging davon aus, dass sich "seelische und körperliche Funktionen" (und damit auch Krankheitssymptome) gegenseitig vertreten können, sah Krankheit auch als "Ausdrucksgebärde", als Sprache des Körpers, aber auch der gesellschaftlichen Verhältnisse an. Daher verstand er Kasuistiken als methodisch wertvoll, entwickelte die "biographische Methode" mit, die er als besonders geeigneten Zugang zur Subjektivität des Patienten und zur Herausarbeitung einer "inneren Schlüssigkeit" einer Erkrankung ansah, und veröffentliche zahlreiche Fallgeschichten. Er wollte „den Kranken nicht systematisch aus[zu]fragen, sondern aushören: ihm ein Ohr bieten, das schweigend aufzunehmen versucht […]“. Es ist faszinierend, zu sehen, wie sich von Weizsäcker seine Welt- und Menschensicht über das konkrete Erleben und Tun als Arzt erschließt, quasi in vivo, und das so Verstandene wiederum direkt zum Wohl jedes einzelnen Kranken einzusetzen versucht. Anhand einer Analyse des Krankseins suchte er nach einer „medizinischen Anthropologie, also nach allgemeingültigen Aussagen über das Menschsein (siehe auch: Anthropologische Medizin – was ist das? Und was nicht?) und erweist sich damals wie heute als wichtiger Vordenker einer menschengemäßen, anthropologischen Medizin.

Der Gestaltkreis (1932/1940)



Von Weizsäcker geht hier zunächst ausführlich auf sinnesphysiologische Phänomene und Untersuchungen ein. Er kommt zu dem Schluss, dass die neurologischen Begriffe der Reiz-Reaktions-Forschung, wie die Leitungstheorie der Nerven und die Lokalisationslehre des Gehirns, als zu reduktionistisch abzulehnen sind. Stattdessen führt er Begriffe wie „Funktionswandel“, „Leistungsprinzip“ oder „biologischer Akt“ ein. Als Beispiel für die von ihm postulierte „Einheit von Wahrnehmen und Bewegen“ in einem solchen „biologischen Akt“ schreibt er: „Wenn ich bei geschlossenen Augen einen Schlüssel abtaste, so hängen Form und Folge der Reize auf meinen Tastorganen von Form und Folge meiner Tastbewegungen ab; die Reizgestalt ist also von zwei Seiten determiniert: vom Objekt und von der Reaktion. Den Gesamtvorgang können wir jetzt als einen Kreisprozess verstehen, indem die Kette der Ursachen und Folgen in sich zurückläuft in Bezug auf das Gestaltetsein des Vorgangs“. Unsere Wahrnehmung erfolgt somit immer in einer Handlung, einer Hinwendung zur Umwelt, und was wir wahrnehmen, ist immer schon Folge dieser Eigenbewegung. Dieses „Grundverhältnis“ ist nach von Weizsäcker nicht auflösbar und auch nicht vollständig objektivierbar: „Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen.“ Letztlich postuliert von Weizsäcker den „Gestaltkreis“ weit über die Sinnesphysiologie hinaus als die grundsätzliche Form jeder Begegnung und Auseinandersetzung, auch jedes Kontakts zwischen Ärzt*in und Patient*in: „Was in einem Menschen vor sich geht, das erfährt man aus seinem Verhältnis zu einem anderen Menschen, und wenn der erste der Kranke und der zweite der Arzt ist, dann ist die Wahrheit weder nur in einem, noch nur im anderen beheimatet, sondern in ihrer zweisamen Einheit.“ Die therapeutische Beziehung ist somit immer Diagnostikum und Therapeutikum zugleich.
Hier beschreibt von Weizsäcker autobiographisch seinen Werdegang von der experimentellen Physiologie zur Inneren Medizin, über die Neurologie und schließlich zur Psychoanalyse. Er stellt insbesondere den Entstehungsprozess des Gestaltkreises und die ihn prägenden Zeitgenossen dar. Fasziniert schildert er beispielsweise eine körperliche Untersuchung seines internistischen Lehrers Albert Fraenkel: „Vom zarten Abtasten der Bauchdecken glitt er unmerklich zur Erkundung der Art seiner Schmerzen, zu seinen beruflichen Wünschen, zu seiner persönlichen Problematik über und gelangte so zur einfühlenden Intuition eines ihm zuvor fremd gewesenen Menschen. (…) Fraenkel maß und beurteilte überhaupt nichts, sondern empfing ein Bild.“ Durch seine Begegnungen mit Sigmund Freud und der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse erkennt Weizsäcker deren zentralen Beitrag zur Entwicklung einer Krankheitslehre, die ausdrücklich die Subjektivität jedes Kranken und den möglichen biographischen Sinn von Erkrankungen einschließt: Man „bekommt“ also seine Krankheit und „macht“ sie auch. Wenn man Patienten auf ihre Diagnose reduziert, bleiben ätiologische Zuordnungs- und therapeutische Lösungsmöglichkeiten ungenutzt.

Natur und Geist (1944)



Pathosophie (1956)



In diesem, zur Zeit seiner Veröffentlichung weit beachteten, durchaus kontroversen und sowohl sprachlich als auch inhaltlich sehr komplexen, teils rätselhaften und in seiner Naturwissenschaftskritik radikalen Alterswerk schlägt von Weizsäcker den Bogen von seinen frühen physiologischen Forschungen hin zu einer umfassenden Krankheitslehre, die die Spaltung in Subjekt und Objekt überwinden soll. Zentral ist dabei seine Beschreibung des Menschen nicht als etwas Statisches („Ontisches“), sondern als etwas sich immer Wandelndes, neue Verbindungen und Verhältnisse Eingehendes und damit sehr Lebendiges, Dynamisches, Kreatives, aber auch Unsicheres („Pathisches“), das uns Entscheidungen abverlangt, Hinwendung ebenso wie Verzicht. Die Wandelbarkeit und Leidenschaftlichkeit des Menschen stellt von Weizsäcker u.a. mit einem „pathischen Pentagramm“ dar: Im „Dürfen“, „Müssen“, „Wollen“, „Sollen“ und „Können“ sieht er die grundlegenden, sich aber ständig wandelnden Modi, in denen der Mensch sich selbst und seiner Umwelt gegenüberstehen kann, einschließlich Übergängen und Ambivalenzen. Von Weizsäcker betont dabei die Bedeutung des nuancierten Empfindens von Feinheiten, Zwischentönen, kleinstmöglichen Unterschieden und Widersprüchen. Im Kapitel „Biographik“ weist er schließlich am Ende des Buches auf die Wirksamkeit des „ungelebten Lebens“ hin, also derjenigen Begierden, Wünsche und Ziele, die, selbst wenn sie unverwirklicht bleiben, biographisch wichtig und richtungsgebend sind. Für die praktische Medizin heißt das, dass die eigene Körperlichkeit und Endlichkeit, die Auseinandersetzung mit dem Anderen und der Welt ebenso wie die damit verbundenen Freuden und Leiden elementare Bestandteile der menschlichen Existenz sind, dass sie, sehr bunt und gar nicht schwarz-weiß, vielleicht sogar das Leben selbst darstellen. Das heißt auch, dass nicht alle Widersprüchlichkeiten geklärt und beseitigt, nicht alle Leiden unterdrückt und bekämpft werden müssen, sondern vielmehr Lebendigkeit und Erkenntnis ermöglichen können.

Matthias Wiehle






Literatur und Links



Viktor von Weizsäcker Gesellschaft. Werke, Sekundärliteratur und weiterführende Texte. https://viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de/index.php?id=1

Hoffmann SO. Viktor von Weizsäcker: Arzt und Denker gegen den Strom. Dtsch Arztebl 2006; 103(11): A-672 / B-577 / C-557 https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=50616

Hühnerfeld P. Die Theorie ist nicht nur grau. Zu medizin-philosophischen Büchern von Leibbrand, Weizsäcker und Binswanger. DIE ZEIT 1956, Nr. 8. https://www.zeit.de/1956/32/die-theorie-ist-nicht-nur-grau

Rimpau W (Hrsg.). Viktor von Weizsäcker. Warum wird man krank? - Ein Lesebuch. Suhrkamp 2008 https://www.suhrkamp.de/buecher/warum_wird_man_krank_-viktor_von_weizsaecker_45936.html

Schmincke B. Viktor von Weizsäcker (1886–1957). Biogramm. In: Ebke T, Schloßberger M. Dezentrierungen: Zur Konfrontation von Philosophischer Anthropologie, Strukturalismus und Poststrukturalismus. Sonderdruck aus: Accarino B, de Mul J, Krüger HP. Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie. Akademie Verlag Berlin 2011/2012, S. 279, 284 und 292. https://viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de/assets/pdf/Biogramm_Viktor_von_Weizsaecker.pdf

Stoffels H, Achilles P. Anmerkungen zum Streitfall: Viktor von Weizsäcker und der Nationalsozialismus. https://viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de/mitt_mehr.php?id=8&sID=4

Benzenhöfer U. Der Arztphilosoph Viktor von Weizsäcker. Leben und Werk im Überblick. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007.

Viktor von Weizsäcker Gesellschaft. Biographie. https://viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de/biographie.php?id=2

von Weizsäcker V. Gesammelte Schriften in zehn Bänden - 1. Natur und Geist. Begegnungen und Entscheidungen. Suhrkamp, Berlin 1986. https://www.suhrkamp.de/buecher/gesammelte_schriften_in_zehn_baenden-viktor_von_weizsaecker_57720.html

von Weizsäcker V. Gesammelte Schriften in zehn Bänden - 4. Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. Suhrkamp, Berlin 1997. https://www.suhrkamp.de/buecher/gesammelte_schriften_in_zehn_baenden-viktor_von_weizsaecker_57779.html

von Weizsäcker V. Gesammelte Schriften in zehn Bänden - 9. Fälle und Probleme. Klinische Vorstellungen. Suhrkamp Berlin, 1988. https://www.suhrkamp.de/buecher/gesammelte_schriften_in_zehn_baenden-viktor_von_weizsaecker_57795.html

von Weizsäcker V. Gesammelte Schriften in zehn Bänden - 10. Pathosophie. Suhrkamp Berlin 2005. https://www.suhrkamp.de/buecher/gesammelte_schriften_in_zehn_baenden-viktor_von_weizsaecker_57799.html

Wiedebach H. Die Pathosophie Viktor von Weizsäckers. Mitteilungen der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft. Fortschr Neurol Psychiat 2011; 79: 745–56 https://viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de/assets/pdf/Mitteilungen_Nr29_11.pdf?id=8

Gahl KPG. Anthropologische Medizin als klinische Wissenschaft. Ethik in der Medizin 2011, 23: 67–71. https://www.viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de/assets/pdf/Menschenbild_med_Anthropologie.pdf

Jacobi RME. Zum Menschenbild der medizinischen Anthropologie – eine Einführung. https://www.viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de/assets/pdf/Menschenbild_med_Anthropologie.pdf

Wiedebach H. Skizze einer pathischen Ethik. https://www.viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de/assets/pdf/Menschenbild_med_Anthropologie.pdf