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TÄTIG SEIN

TÄTIG SEIN:

ENACTED, EXTENDED!

"Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden,

und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen."

Hannah Arendt. Vita activa. 1960


(Miteinander) Tätig sein

Wir Menschen der Moderne leben eine „Vita activa“, ein tätiges Leben, sehr viel eher als eine „Vita contemplativa“, die einstmals als die höhere Lebensform angesehen wurde. Wir gestalten die Realität - unsere Wahrnehmungen, unsere Handlungen, unsere Beziehungen - auf dem Boden unserer Vorerfahrungen ununterbrochen und immer wieder neu („enacted“). Dabei greifen wir aus in die Umwelt, mit der wir interagieren („extended“).

Wir sind Macher, packen an, gestalten, zerstören und bauen wieder auf: Homo Faber statt Viator Mundi. Wir glauben an den Fortschritt, die Kraft des Willens und des Tuns, und manchmal packt uns die Zerstörungswut. Im Guten wie im Schlechten ist alles möglich, nichts fix vorgegeben, anything goes. Zuweilen setzen wir auch dort auf Tatkraft, Manipulation oder Gewalt, wo eher Zurückhaltung und Loslassen angebracht wäre. Das betrifft auch unseren Körper, den wir pflegen, gestalten, zuweilen malträtieren.
Auch unser Gehirn ist ununterbrochen tätig, sogar im so genannten Ruhezustand („default mode“): Es ist eben kein passiv informationsverarbeitender Computer, sondern vielmehr eine Bilder- und Vorhersagemaschine, ein Vermittlungs- und Beziehungsorgan. Mit unserem Gehirn entwickeln wir eine Sprache, entwerfen Bilder und Pläne. Wir kombinieren und interpretieren. Zuweilen machen sich unsere Gedanken und Gefühle selbstständig, lösen sich von der Realität, von der schöpferischen Phantasie bis hin zu Grübeln, Scheinerinnerungen und Wahn.

Aktiv sein heißt einerseits handeln. Aber auch bewusstes Innehalten, Abwarten Zuhören und Geschehenlassen können Ausdruck von Aktivität sein. Handeln heißt auch miteinander handeln und ringen, etwas aus-handeln und ent-wickeln. Und schließlich ist auch das Miteinander-Sprechen und -Denken Tätigsein, so wie das „kommunikative Handeln“ über Sprache bei Habermas oder das „participatory sense-making“. Sie erweitern das enaktivistische Konzept der Sinnstiftung durch Gestaltung um eine soziale Dimension: Inter-Aktion eben. Dabei ist Interaktion nicht einfach nur die Summe individueller Ziele und Fähigkeiten. Im Miteinander entsteht etwas Neues, Zusätzliches. Interaktions-Dynamiken können viel konstruktive, aber auch destruktive Kraft entfalten. Als Beispiele seien hier nur kurz Mobbing, Schwarmintelligenz oder Massenhysterie genannt.

"Enaction is the idea that organisms create their own experience through their actions.

Organisms are not passive receivers of input from the environment,

but are actors in the environment such that what they experience is shaped by how they act."

Edwin Hutchins. Cognition in the Wild. 1996

Bedeutung für die Medizin

Für die Medizin sind eine ganze Reihe von Aspekten des „Tätigseins“ interessant:

Es gibt mehrere Störungen des (Miteinander-)Handelns, also der körperlichen und der mentalen Produktivität, etwa funktionelle oder strukturelle Bewegungsstörungen, Demenzen, Autismus, Impulskontrollstörungen oder Psychosen. Letztlich kann man auch Kreislauf-, Fortpflanzungs- und Stoffwechselstörungen als „Aktivitäts-Störungen“ betrachten, von der Obstipation über die Hyperthyhreose bis zur Infertilität.

Bemerkenswerterweise hat die Medizin allerdings - abgesehen von der rein biologischen Aktivität - eine erstaunlich geringe Erwartung an die Eigenaktivität von Patienten: Sie werden ja be-handelt und ver-arztet. Innerhalb einer eher patriarchal und biotechnologisch gedachten Medizin reicht es, wenn Patienten sich auf den OP-Tisch legen, Medikamente verordnungsgemäß einnehmen und auch allen anderen ärztlichen Anweisungen passiv folgen.
Eine interessante Wendung ist es da, wenn wir uns Ärzte nicht als die einzige und wichtigste Triebfeder der Behandlung begreifen, sondern die Patienten selbst zu mehr Tätigsein und Selbstwirksamkeit ermuntern, z.B. über die Modifikation von Life-Style-Faktoren wie Rauchen und Bewegung, über die aktive Umgestaltung von als belastend erlebten (Arbeits-)Bedingungen, oder über eine Vergrößerung ihres Bewegungsradius, sei es durch Geh-Hilfen oder eine Reduktion von Vermeidungsverhalten. Dazu gehört auch die Verbesserung des Selbsterlebens als aktiv tätig und wirksam, und eben nicht als passiv, stumm, hilflos oder ausgeliefert. 

Daher sollen Patienten quer durch die Felder der Medizin unbedingt auch aktiv an Behandlungsentscheidungen und Behandlungen teilhaben (partizipative Entscheidungsfindung/ shared decision making/ Selbsthilfe) z.B. durch ausgewogene Aufklärung über die (Nicht-)Notwendigkeit von Prozeduren, eine Medikationsfortsetzung entlang gemeinsam festgestellter Präferenzen, Wirkungen und Nebenwirkungen oder die Durchführung von Eigenübungen. 

Die so genannte „Non-Compliance“ sollte dabei nicht vorschnell als irrational oder widerspenstig gedeutet werden. Oft sind die Gründe für eine fehlende Adhärenz individuell nachvollziehbar, können durch Erklärungen entkräftet oder durch eine entgegenkommende Modifikation der Behandlung gewürdigt werden.
Wenn wir Inter-Aktionen mit dem Patienten überhaupt erst zulassen, sei es das Ringen um die vermeintliche Krankheitsursache, um die passende Behandlung oder ein tragfähiges Vertrauensverhältnis, können zusätzlicher diagnostischer Erkenntnisgewinn und therapeutische Wirksamkeit entstehen: Durch den Umgang, das Miteinander (Viktor von Weizsäcker sprach sogar von einem „Handgemenge“) kann der Arzt den Patienten sozusagen am eigenen Leibe erfahren, mit eigenen Augen erkennen, kann als Spiegel, Resonanzfläche, Katalysator uvm. wirken.

Auch die Wirkung von Medizin, von Therapien ganz allgemein, wird ja ganz aktiv hergestellt: Sie ist eine Kombination aus physiologischen Veränderungen und psychologischen Bewertungen. Die Begriffe „Placebo“ und „Nocebo“ stehen für erwünschte und unerwünschte Effekte dieser Art. Sie sind, wohlgemerkt, untrennbar verbunden mit „rein physiologischen“ Effekten – es gibt, anders als in den Modellen der Pharmaforschung, Verum nie ohne Placebo oder Nocebo. 
Und schließlich ist die Medizin ja selbst üblicherweise ganz außerordentlich tätig: Kliniken werden an ihren OP-Zahlen, Wissenschaftler an ihren Publikations-Zahlen gemessen. Ärzte arbeiten Tag und Nacht, lassen nichts unversucht, machen beherzte, meist notwendige, manchmal auch waghalsige oder nicht-indizierte „Eingriffe“ – meist im Interesse ihrer Patienten, manchmal auch zur rechtlichen Absicherung oder aus Abrechnungstaktik. Im Laufe der Epochen ändert sich der „common sense“ (also das „participatory sense making“ der Medizin) dabei durchaus, da wird auch mal eine Sau durchs Dorf getrieben, die man im Nachhinein betrachtet besser im Stall gelassen hätte. Denn ebenso wie Unterlassen oder Übersehen kann auch (blinder) medizinischer Aktionismus teuer werden, für das Gesundheitssystem mit seinen nun mal begrenzten Budgets allemal, vor allem aber für Patienten, die den Risiken überflüssiger Diagnostik und Therapie ausgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund gehören aufmerksames Zuwarten („watchful waiting“), weises Abwägen („choose wisely“) und ein Einbeziehen von Tun und Wollen des Patienten ganz sicher auch zu einer guten Medizin.

Peter Henningsen und Constanze Hausteiner-Wiehle



Literatur und Links



Arendt H. Vita activa oder Vom tätigen Leben. Kohlhammer, Stuttgart 1960

Collaco L, Barsky AJ. Placebo and Nocebo Effects. N Engl J Med 2020; 382:554-561

De Jaegher H, Di Paolo E, Gallagher S. Can social interaction constitute social cognition?. Trends in Cognitive Sciences 2010;14(10):441–447. https://www.researchgate.net/publication/45439365_Can_Social_Interaction_Constitute_Social_Cognition#fullTextFileContent

De Jaegher H, Di Paolo E. Making Sense in Participation: An Enactive Approach to Social Cognition. In: Morganti F et al. (Hrsgb).Enacting Intersubjectivity. IOS Press, 2008.  https://ezequieldipaolo.files.wordpress.com/2011/10/dejaegher_dipaolo_2008.pdf

Fuchs T. The Brain – a mediating organ. J Consc Stud 2011; 18 (7-8): 196-221. https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/zpm/psychatrie/fuchs/The_Brain_-_A_Mediating_Organ.pdf

Habermas J. Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt 1983.

Hutchins E. Cognition in the Wild. MIT Press, Cambrigde, Mass./USA 1996

Newen A, de Bruin L, Gallagher S. Oxford Handbook of 4E Cognition. Oxford University Press, Oxford 2018

S3 Leitlinie "Funktionelle Körperbeschwerden". https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/051-001l_S3_Funktionelle_Koerperbeschwerden_2018-11.pdf

Thompson E. Mind in Life: Biology, Phenomenology, and the Sciences of Mind. Harvard University Press, Cambridge 2007

Torrance S, Froese T. An Inter-Enactive Approach to Agency: Participatory Sense-Making, Dynamics, and Sociality. Human Mente 2011;15:21–53.https://www.sacral.c.u-tokyo.ac.jp/pdf/froese_humana_2011.pdf





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