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BITTE ANFASSEN - BERÜHRUNG UND GESUNDHEIT

BITTE ANFASSEN -

BERÜHRUNG UND GESUNDHEIT

DISCRIMINATIVE TOUCH

SOCIAL TOUCH

„Was uns nicht berührt, das verwandelt uns nicht.“

Carl Gustav Jung





Was hat es mit dem Berühren und dem Berührt-Werden auf sich? Was empfinden wir als berührend in einem weiteren Sinne? Ist Berührung einfach nur angenehm oder interessant oder auch wichtig für die menschliche Entwicklung und Gesundheit? Wo entstehen Probleme durch Berührungen, vor allem in der Arzt-Patient-Beziehung?

Das diskriminative Erkennungsberühren wird über myelinisierte, also „schnelle“ Aβ-Fasern vermittelt und besteht aus verschiedenen Dimensionen (Stereognosis, Graphästhesie, Zwei-Punkt-Diskrimination, räumliche Diskrimination, Druck-, Temperatur- und Vibrations-empfinden). Wir berühren zum ganz überwiegenden Teil mit unseren Händen. Sie sind außerordentlich fein-motorische und fein-sinnige Werkzeuge – das gilt nicht nur für die zwischenmenschliche Berührung, sondern auch für das Ertasten von Gegenständen. Mit Berührung (bei Kleinkindern auch das sensorisch sehr intensive In-Den-Mund-Nehmen) erforschen, verstehen, erobern wir also die Welt – nicht umsonst sprechen wir vom Wahr-Nehmen, Er-Fassen, Be-Greifen, und auch vom Hand-eln. Kleine, scharf begrenze rezeptive Felder mit Meissner-Körperchen und Merkel-Zellen befinden sich in besonderer Dichte auf den Innenseiten von Zeige- und auch Mittelfinger und Handfläche, die man z.B. zum Lesen von Brailleschrift nutzt.

Diskriminative Berührung ist ein zentrales Element der ärztlichen Untersuchung. Das uralte Instrument der Palpation (übrigens von lateinisch palpare, „streicheln“) erfasst gleichzeitig so verschiedene Qualitäten wie Spannung, Konsistenz, Elastizität, Beweglichkeit, Größe, Schmerz- bzw. Berührungsempfindlichkeit. Erfahrene Untersucher sind dabei im dreifachen Sinne sensibel: Sie erspüren differenziert Befunde, aber auch das Befinden der Patient*in, und ihre Berührung vermittelt das passende Maß an Sorgfalt, Wachsamkeit, Vertrauens-würdigkeit und damit auch Beruhigung, vielleicht sogar Trost. Ärztliche Berührung ist also nicht ausschließlich diskriminativ, sondern auch sozial.

Das „affektive“ bzw. „soziale“ Berührungsempfinden wird über die unmyelinisierten und daher eher langsam leitenden C-taktilen Nervenfasern vermittelt. Sie reagieren offenbar am stärksten auf langsame Berührung mit einer Geschwindigkeit von etwa 3 cm/sec, also Streichen oder Streicheln (anstatt Auflegen oder Rubbeln). C-taktil vermittelte Berührung löst beim Berührten potentiell eine angenehme Empfindung über den Neurotransmitter Oxytocin aus (quasi eine Aktivierung des Belohnungssystems in Gehirn), es kommt zur Beruhigung in den Stressachsen, auch Schmerzen werden weniger stark wahrgenommen. C-taktile Fasern liegen eher an äußeren Körperstellen.

Intensität und Bewertung von Berührungen hängen natürlich keinesfalls nur von der „Streichel-Geschwindigkeit“ ab. Sie werden wesentlich von der persönlichen Beziehung, der momentanen Situation, dem Geschlecht, dem Alter und dem kulturellen Background beeinflusst. In der frühen Kindheit ist Berührung essentiell für Wohlbefinden und Entwicklung, in der Pubertät ambivalent besetzt. In der Jugend und im jungen Erwachsenenalter steht ihre erotische und damit auch reproduktive Bedeutung im Mittelpunkt, im höheren und hohen Erwachsenenalter bekommt sie wieder mehr Entspannungs-, Bindungs- und am Lebensende auch spirituellen Charakter. Anders als beispielsweise Sehen oder Hören ist Berühren an einen unmittelbaren Kontakt gebunden, funktioniert nicht über Distanz.

Berührungen sind auch nicht immer gleich angenehm. Jeder, der schon einmal, sei es aus Versehen oder in übergriffiger Weise, freundschaftlich oder sogar zärtlich von jemandem berührt wurde, von dem er oder sie das nicht erwartet bzw. sogar explizit nicht gewollt hat, kennt das Befremden oder sogar Entsetzen, das eine solche Berührung auslösen kann – die gleiche Art von Berührung, die wir von jemandem anderen sehr positiv erlebt hätten. Je positiver wir die Beziehung zu einer Person erleben, desto mehr und an weiteren Bereichen des Körpers sind wir bereit, uns von dieser berühren zu lassen. Das fängt bei Fremden an, die uns an der Hand berühren dürfen und geht dann über Freunde und engere Verwandte, die zunehmend mehr an Armen, Rücken und Kopf berühren dürfen, bis zu den Partnern, deren Berührung wir dann überall am Körper gutheißen, sogar an unseren Körperinnen-seiten. Dieses Muster gilt kulturübergreifend, ist in Japan nicht anders als z.B. in England – mit kleinen Unterschieden. So wurde z.B. berichtet, dass Berührungen in Japan insgesamt als weniger angenehm erlebt werden.
Auch Erlebnisse ohne physischen Kontakt bezeichnen wir manchmal als berührend: die innere Ruhe eines todkranken Kindes; die Tränen eines völlig erschöpften Kollegen; die Beobachtung eines Sonnenaufganges nach einer schwierigen, aber geglückten Operation. In berührenden Momenten wird meist gar nicht viel gesagt oder gehandelt, sie brauchen keinen Erfolg und kein Ergebnis. Vielmehr haben sie meist etwas mit einem Innehalten und Mitschwingen zu tun, einem Sich-Öffnen und Verbinden, nach innen hin zu Erinnerungen oder nach außen hin zur Mitwelt.

Wozu soll das gut sein? Man kann sich gegen eine oftmals ja negativ konnotierte Rührung („Rührseligkeit“*) wehren, vielleicht, weil in einer Notfallsituation keine Zeit dafür ist oder weil man sich keine Blöße geben möchte. Man kann sie sich auch gänzlich abgewöhnen, sich sozusagen desensibilisieren oder eine Hornhaut zulegen. Damit kommt man in der Medizin tatsächlich erstaunlich weit – manchmal sogar gerade dadurch besonders weit, weil man als belastbar und professionell gilt. Und schließlich gibt es ja auch ein Zuviel an Engagement und Mitgefühl („compassion fatigue“). Allerdings sind Empathie und emotionale Schwingungsfähigkeit mit besserer Team- und Patientenkommunikation, besserer diagnostischer Treffsicherheit, und in Bezug auf das Behandlungsergebnis mit einer besseren Prognose assoziiert. Und auch wenn die Beziehung zwischen Empathie und Burnout kompliziert ist: Ein gesundes Maß an „Berührbarkeit“ stärkt die Arztzufriedenheit und -gesundheit.

WAS BERÜHRT MICH?   

BERÜHRUNG

ALS FUNDAMENT

„Die Seele ist

der berührte Körper.“

Jean-Luc Nancy



In der menschlichen Entwicklung entsteht die Wahrnehmung von Berührung schon in der siebten bis achten Schwangerschaftswoche und ist damit das erste „sensorische Fenster“ zur Außenwelt (anders als z.B. das anfangs recht rudimentäre Sehen). Berührung vermittelt Sicherheit, Geborgenheit und gleichzeitig ein basales Gefühl für sich selbst (hier bin ich – da ist der andere). Das ist, verkürzt ausgedrückt, die Bedingung für die Entwicklung von Stressregulation, sicheren Bindungen und Ich-Bewusstsein.

Wie bedeutsam Berührung für die seelische und körperliche Gesundheit ist, merkt man am eindrücklichsten an den Folgen längerfristig ausbleibender Zuwendung durch Berührung. Einige Beispiele:

- Experimente mit Mäusen haben gezeigt, dass sich ein verminderter Körperkontakt zur Mutter in der frühen Kindheit über epigenetische Veränderungen dauerhaft negativ auf Stressreaktivität und kognitive Entwicklung auswirkt; die Mäuse bleiben lebenslang stress- und krankheitsanfälliger.
- In den 50er Jahren zog der Verhaltensforscher Harry Harlow für seine Studien neugeborene Affen möglichst keimfrei in Drahtkäfigen auf, isoliert von ihren Müttern. Obwohl sie gut ernährt wurden, entwickelten sie Verhaltensauffälligkeiten, blieben körperlich in der Entwicklung zurück und wurden vermehrt krank. Also modifizierte Harlow die Aufzucht und bot den Äffchen in ihren Käfigen zwei Drahtgestelle an, eines, das Milch spendete und eines, das dies nicht tat, aber mit Fell umkleidet war. Die Äffchen hielten sich bei der Milchspenderin stets nur kurz zur Nahrungsaufnahme auf, kuschelten sich aber ansonsten an die stoffbespannte Attrappe und entwickelten sich besser.
- Im „Bucharest Early Intervention Project“ wurde der Langzeitverlauf rumänischer Heimkinder in Abhängigkeit von ihrem Verbleiben in Institutionen im Vergleich zur Aufnahme in Pflegefamilien verglichen. Die Heimkinder waren deutlich stärker verhaltensauffällig, körperlich und geistig entwicklungsverzögert.
- Bis in die 90er Jahre hinein wurden Mütter, deren frühgeborene Säuglinge in Brutkammern oder Intensivstationen versorgt werden mussten, aus angeblich hygienischen Gründen daran gehindert, ihre Kinder auf die Brust zu legen – heute weiß man, dass dieses „Kangarooing“ das Outcome bei Frühgeburtlichkeit verbessert.
In berührenden ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen entstehen fast regelmäßig Situationen, in denen Patient*innen Scham oder Ohnmacht erleben. Denn Körperkontakt zwischen Ärzt*in und Patient*in ist immer einseitig und hierarchisch: Eine*r ordnet und fasst an, eine*r gehorcht und wird angefasst; eine*r zieht sich aus, eine*r bleibt angezogen und trägt dabei meist sogar eine Art Uniform. Dazu kommt: Viele Themen und Körperbereiche sind kulturell tabuisiert bzw. individuell angst- oder schambesetzt. Und schließlich: Obwohl Berührung im medizinischen Kontext überwiegend prozedural bzw. instrumental verstanden werden soll (und nicht expressiv, was aber für Patient*innen nicht immer klar zu unterscheiden ist), verhalten sich Ärzt*innen manchmal unpassend. Um eine lockere, vertraute Atmosphäre herzustellen, geben sie sich z.B. kumpelhaft und berühren auch ihnen unbekannte Patient*innen an der Schulter o.ä.. Oder sie untersuchen so rasch und routiniert, dass sie übersehen, wenn ihnen eine Person gegenübersitzt, die dies als bedrohlich erlebt.

Gerade Menschen, die schmerzliche Berührungen in Form körperlicher Übergriffe erlebt haben, stehen Berührungen aber oft ambivalent oder aversiv gegenüber. Sie erleben mitunter körperliche Untersuchungen oder gar das Sich-Ausliefern auf dem OP-Tisch als kaum erträglich. Harmlose, nett gemeinte Gesten der Vertrautheit oder der Anteilnahme, mehr oder weniger direkte Flirts oder Komplimente und erst recht entblößende oder schmerzhafte Untersuchungen können traumatische Erfahrungen und die damit verbundenen Ängste, Stressreaktionen (flight, freeze, fight) oder auch Kompensations- oder Rachewünsche triggern, selten auch falsche Anschuldigungen. Auch im Rahmen von Entwicklungsstörungen wie Autismus kann Berührung erheblich aversiv besetzt sein. Betroffene schrecken davor zurück, neigen stattdessen zu selbststimulierendem Verhalten, also zur Wiederholung von physischen Bewegungen, Geräuschen oder Lauten wie dem Betasten von Oberflächen oder dem Schaukeln mit dem Kopf.

Ärzt*innen brauchen daher eine hohe Sensibilität im Umgang mit Berührung, und zwar ganz grundsätzlich und nicht bei nur urogenitalen Prozeduren, vortraumatisierten Menschen oder im Rahmen körperlicher Untersuchungen bei Verdacht auf Vergewaltigung. „Ganz normale“ Untersuchungen und (gerade passive) körperorientierte Therapieverfahren, die therapeutische Berührung und Körperkontakt bewusst als zentralen Zugang zu den Betroffenen einsetzen, bergen (geringe) Risiken nicht reflektierter emotionaler Abhängigkeitsentwicklungen, vermeintlicher oder tatsächlicher Grenzüberschreitungen, auch wenn sie natürlich in den allermeisten Fällen mit einer eine hohen Patientenpräferenz und -akzeptanz einhergehen.

Für den ärztlichen Alltag ist es vor allem wichtig, zu erkennen, falls Patient*innen Probleme mit Berührung haben. Dann kann das weitere Vorgehen angepasst werden, z.B. durch mehr Erläuterungen, Rücksichtnahme, Übergabe an einen gleichgeschlecht-lichen Untersucher o.ä.. Tangential, ohne zu direkt zu konfrontieren, vor allem ohne gleich nach traumatischen Erfahrungen zu fragen, kann man unaufdringlich darauf hinweisen, dass man die hohe Anspannung bemerkt hat, darauf Rücksicht nehmen wird, dass Schwierigkeiten mit dem Thema Berührung recht häufig und durchaus bewältigbar sind. Ein solcher, professionell reflektierter und individuell angepasster Umgang kann die Fortführung der Behandlung und zugleich eine neue, zumindest neutrale, evtl sogar vertrauensstärkende Berührungs- und Beziehungserfahrungen und damit nicht zuletzt eine bessere zukünftige medizinische Versorgung ermöglichen.



* Es gibt allerdings auch eine pathologische Form der Rührseligkeit, die so genannte „Affektinkontinenz“ oder „emotionalism“ z.B. nach Schlaganfällen.

BERÜHRUNG

ALS BEDROHUNG

Constanze Hausteiner-Wiehle

und Peter Henningsen







LITERATUR UND LINKS



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