Diese Website ist 
bewusst schlicht gehalten 
und wird regelmäßig ergänzt.
HIER GEHT'S ZURÜCK ZUR STARTSEITE

OFFENES BUCH, SENSIBLES TERRAIN, VERGESSENER SCHATZ: DIE KÖRPERLICHE UNTERSUCHUNG

OFFENES BUCH, SENSIBLES TERRAIN, VERLORENER SCHATZ:

DIE KÖRPERLICHE UNTERSUCHUNG

„Vom zarten Abtasten der Bauchdecken glitt er unmerklich
zur Erkundung der Art seiner Schmerzen,
zu seinen beruflichen Wünschen, zu seiner persönlichen Problematik über 
und gelangte so zur einfühlenden Intuition eines ihm zuvor fremd gewesenen Menschen.
[…] [Er] maß und beurteilte überhaupt nichts, sondern empfing ein Bild.“
Viktor von Weizsäcker. Natur und Geist.1954


Die körperliche Untersuchung hat leider im hektischen ärztlichen Alltag und neben anderen verfügbaren, oft natürlich recht präzisen und auch gut abrechenbaren modernen diagnostischen Methoden stark an Bedeutung verloren. Viele Ärzte (und manche Patienten) empfinden sie als zu zeitintensiv (z.B. durch das umständliche Ein- und Auskleiden, vor allem bei älteren Menschen), manchmal als peinlich. Nicht umsonst spricht man vom "Kassendreieck", die kleine Region zwischen Hals und oberem Brustkorb, die man ohne Ausziehen mit dem Stethoskop erreicht. Dabei ist die körperliche Untersuchung ein wahres Schatzkästchen. Schon allein im Händedruck stecken ja die unterschiedlichsten Informationen (fest oder schlaff? trocken oder feucht? forsch oder zurückhaltend? beschwielt oder zart? gepflegt oder vernachlässigt?) – und er kostet weder Zeit noch Geld.

Die körperliche Untersuchung ist natürlich zuallererst eine wichtige Informationsquelle für die Erfassung krankheitstypischer körperlicher Zeichen und Befunde.

Sie dient letztlich deren diagnostischer Einordnung und der Abschätzung weiteren medizinischen Handlungsbedarfs. Dies gilt insbesondere für die Identifikation von abwendbar gefährlichen Verläufen, von Einschränkungen aufgrund einer bereits eingetreten Chronifizierung und von (vielleicht nicht erzählten) Vor- bzw. Begleiterkrankungen.

Zur körperlichen Untersuchung gehören generelle Beobachtung, punktuelle Inspektion, Auskultation, Perkussion und Palpation sowie standardisierte Übungen und Funktionstests. Insbesondere Funktionsstörungen, Anspannung oder Schonhaltungen sind dadurch oft besser erkennbar als durch meist statische apparative Diagnostik. Mit einer standardisierten Erstuntersuchung kann zudem ein Ausgangsstatus beschrieben werden, durch Nachuntersuchungen lassen sich gut Veränderungen und Verläufe erfassen. Dafür ist eine Dokumentation der Untersuchung hilfreich, mit Einverständnis von Patienten in einzelnen Fällen auch per Foto oder Video. Idealerweise erlauben sorgfältige, ggf. mehrmals wiederholte körperliche Untersuchungen einen zumindest teilweisen Verzicht auf aufwändige, teure und teils risikobehaftete apparative Untersuchungen.

Aus körperlichen Untersuchungen können zudem zahlreiche weitere 
wertvolle Informationen abgeleitet werden:

Die Zeit und aufmerksame Hinwendung, die körperliche Untersuchungen erfordern, können genutzt werden, um "ganz nebenher" mit Patienten ins Gespräch zu kommen und so deren ureigenes Beschwerdeerleben, Ursachenzuschreibungen und Befürchtungen zu Auswirkungen und Prognose zu erfahren.

Bewusstseinsgrad, Ausdruck/Körpersprache und Verhalten können Hinweise auf Psyche und Kontext von Patienten geben und den (in meisten Fällen natürlich nur orientierend erhobenen) psychopathologischen Befund ergänzen (z.B. leise, tonlose Stimme, ängstliche Vermeidung von Blickkontakt oder von Bewegungen, dramatisierender Beschwerdeausdruck, beschämtes Ausweichen oder alarmiertes Zusammenzucken bei Berührung, dissoziatives „Weggetretensein“, sexualisiertes Verhalten).

Körper tragen Spuren ihres aktuellen und biographischen Kontexts, z.B. Narben, Tätowierungen und Körperschmuck (wie Piercings, Lebensmotto, Mitgliedszeichen), deren Entstehung bedeutsam sein kann (z.B. Partnerschaft, Protest, zurückliegende Unfälle, stattgehabte Operationen, aber auch Gewalterfahrung und Selbstverletzung).

Anamnese und körperliche Untersuchung sind meist konsistent, es können sich aber auch Diskrepanzen ergeben, Hinweise auf Verschwiegenes oder Ignoriertes, auf Widersprüche, Aggravation/ Simulation oder sogar auf Manipulation.

Und schließlich können eigene ärztliche Impulse während körperlicher Untersuchungen registriert werden, z.B. Ekel, Scham oder Aggression. Diese haben natürlich vor allem mit mitgebrachten Einstellungen und Erfahrungen der Untersucher zu tun, können aber, wenn sie auffällig vom Üblichen abweichen, auch Hinweise auf die Krankengeschichte geben.

Körperliche Untersuchungen bergen darüber hinaus gut nutzbares therapeutisches Potenzial – siehe auch den weiterführenden Text zu Berührung: 

Sie unterstützen den Aufbau der therapeutischen Beziehung. Sorgfalt und Wachsamkeit der Untersucher stärken das Vertrauen in die ärztliche Kompetenz.

Sie können beruhigend wirken, wenn unauffällige Befunde direkt und entängstigend kommuniziert werden ("Hier taste ich Ihre Leber, sie ist schön weich und hat eine völlig normale Größe").

Während körperlicher Untersuchungen können grundlegende (patho-)(psycho-)physiologische Vorgänge sowie anatomische Strukturen und Zusammenhänge "live" gezeigt und erklärt werden ("Es ist ganz normal, dass man die Muskulatur anspannt, wenn man unter Stress steht und so wenig schläft wie sie. Aber hier kann man gut ansetzen"). Sie dienen also ganz nebenher der Psychoedukation.

Auch die Berührung selbst kann Nähe herstellen, Vertrauen stärken, Trost und Fürsorge signalisieren, entspannen und somit im weitesten Sinne therapeutisch wirken.

Aber: Körperliche Untersuchungen bergen auch Risiken.

Das Verletzungsrisiko durch sie ist zwar deutlich geringer als durch apparative Untersuchungen, aber vorhanden, z.B. bei Manipulationen der HWS. Vor allem aber kommen sich Ärzt*in und Patient*in bei körperlichen Untersuchungen sehr nahe. Ärzte haben qua Rolle und Auftrag die Legitimation, Menschen besonders intensiv und teilweise intim zu berühren, trotzdem sind Missverständnisse und Missbrauch und kommen immer wieder vor (siehe auch weiterführenden Text zu Berührung). Einzelne Länder bzw. Fachrichtungen haben deshalb Leitlinien formuliert, allerdings bislang nur für die Durchführung von Untersuchungen im Intimbereich.
Körperliche Untersuchungen aus Sicht einer anthropologischen Medizin

- müssen allgemeinen Regeln entsprechen, z.B. „Neurostatus“; Abweichungen davon müssen medizinisch begründet sein;

- müssen gut angekündigt und von eindeutigen Erklärungen begleitet werden, sowie ggf. auch auf mögliche Risiken eingehen;

- bedürfen grundsätzlich einer professionellen, routinierten, respektvollen Distanz, z.B. durch Dienstkleidung, ggf. Handschuhe, Siezen, für Patient*innen gut erkennbare Umkleide- und Untersuchungsbereiche;

- müssen darüber hinaus in der konkreten Situation allgemeine (z.B. kulturelle) und individuelle Tabus und (Körper-)Erfahrungen sensibel wahrnehmen, v.a. durch Beobachtung und durch Raum-Lassen für subjektives Erleben;

- müssen diese Tabus und Erfahrungen angemessen berücksichtigen, z.B. durch die (verbale oder nonverbale) Mitteilung, dass die Zurückhaltung oder die Anspannung verstanden wurde, durch Begleitpersonen, durch Übergabe an einen gleichgeschlechtlichen Untersucher oder notfalls durch Verzicht auf eine Untersuchung.

- Ohne eindeutige Klärung mit dem bzw. der Patientin dürfen körperliche Untersuchungen nicht mit therapeutischen Techniken vermischt werden.





Constanze Hausteiner-Wiehle



Literatur und Links



S3-Leitlinie "Funktionelle Körperbeschwerden". https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-001.html

Rousseau PC, Blackburn G. The touch of empathy. J Palliat Med. 2008;11(10):1299-300. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19115886

Kelly M, Tink W, Nixon L, Dornan T. Losing touch? Refining the role of physical examination in family medicine. Can Fam Physician. 2015;61(12):1041-3, e532-4https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4677934/pdf/0611041.pdf

UK General Medical Council. Intimate examinations and chaperones. 2013. https://www.gmc-uk.org/-/media/documents/Maintaining_boundaries_Intimate_examinations_and_chaperones.pdf_58835231.pdf

Galletly CA. Crossing professional boundaries in medicine: the slippery slope to patient sexual exploitation. Med J Aust. 2004;181(7):380-3. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15462658

Singh C, Leder D. Touch in the consultation. Br J Gen Pract. 2012;62(596):147-8.  https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3289810/pdf/bjgp62-147.pdf

Cocksedge S, George B, Renwick S, Chew-Graham CA. Touch in primary care consultations: qualitative investigation of doctors' and patients' perceptions. Br J Gen Pract. 2013;63(609):e283-90. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3609476/pdf/bjgp-april2013-63-609-e283.pdf

Kelly M, Tink W, Nixon L, Dornan T. Losing touch? Refining the role of physical examination in family medicine. Can Fam Physician. 2015;61(12):1041-3, e532-4. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4677934/pdf/0611041.pdf

von Weizsäcker V. Gesammelte Schriften in zehn Bänden - 1. Natur und Geist. Begegnungen und Entscheidungen. Suhrkamp, Berlin 1986. https://www.suhrkamp.de/buecher/gesammelte_schriften_in_zehn_baenden-viktor_von_weizsaecker_57720.html

Gawande A. Better. A Surgeon’s Notes on Performance. Profile Books, London 2007







Share by: