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LEBENDIG SEIN

LEBENDIG SEIN

Was bedeutet das eigentlich, „lebendig sein“? Leben ist definiert als Kombination bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten, die die mehr oder weniger eigenständige Existenz eines mehr oder weniger komplexen Systems ermöglichen, das man dann Organismus nennt.

Ein lebendiger Organismus – auch schon ein Einzeller – besitzt semipermeable Strukturen, die ihn von der Außenwelt abgrenzen, aber auch Austausch mit ihr ermöglichen. Er verfügt über einen Innenraum mit Kompartimenten und darin (bio-)katalytisch wirksame Substanzen, die der Organismus selbst herstellt oder umbaut und die untereinander interagieren. Dafür hat er einen (Energie-)Stoffwechsel, nimmt also in einem ständigen Fließgleichgewicht neue, energiehaltige Materie auf, baut sie ein, um oder verbraucht sie und scheidet Stoffwechselendprodukte aus. Ein lebendiger Organismus kann sich sowohl in einer konstanten, als auch in einer sich ändernden Umwelt selbst regulieren. Dafür nimmt er äußere und innere Reize und Milieuänderungen wahr und reagiert darauf. Ein lebendiger Organismus kann sich entwickeln, sich fortpflanzen und Informationen an Nachkommen weitergeben. Dadurch, dass diese Informationen veränderbar sind, werden transgenerationale Erneuerung und Anpassung möglich. Wenn Neuerungen die Überlebens- und Fortpflanzungswahrscheinlichkeit erhöhen, verdrängen sie im Laufe der Generationen ihre „Vorversionen“; das nennen wir Selektion und Evolution.

Je komplexer der Organismus, desto spezialisierter können Zellen sein. Der menschliche Körper besteht aus über 300 Zelltypen aus dem Endo-, Ekto- und Mesoderm, insgesamt ca. 100 Billionen Einzelzellen. Sie organisieren sich in Organe, Organsysteme, Organismen und arbeiten quasi in orchestrierter Arbeitsteilung d.h. innerlich abgestimmt aufeinander sowie auf alters- und geschlechts-abhängige Bedürfnisse des Organismus, äußerlich auf kulturelle, tages- und jahreszeitliche sowie klimatische Umgebungsbedingungen. Die Selbstorganisation lebendiger Systeme – und zwar sowohl ihre Entstehung als auch ihre Erhaltung, ihr Lebendig-Werden und ihr Über-Leben – wurde als „Autopoesis“ (oder auch allgemeiner „Emergenz“) bezeichnet. Seit etwa vier Milliarden Jahren entsteht dabei Leben immer nur aus Leben (Biogenese). Wie aber das erste Leben ja wahrscheinlich aus anorganischem Material entstand (Abiogenese), ist nach wie vor unklar. Geht man von den physikalisch-chemischen Gegebenheiten des Weltalls aus, muss es irgendwann in irgendeiner Art von Urschleim oder Ursuppe zu spontanen Strukturbildungen durch Autokatalyse hin zu dynamischen, enantiomeren Ungleichgewichten gekommen sein.

„Leben ist die Grundlage, die den Ausgang der Philosophie bilden muss.

Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann.

Das Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden.“

 Wilhelm Dilthey



Homöostase und Allostase - auf allen Ebenen

Die gemeinsamen strukturellen Grundvoraussetzungen für die Emergenz, Selbstorganisation und Evolution komplexer organischer Systeme sind also eine äußere Membran, Zellkompartimente und -ausläufer, hochspezialisierte Strukturen wie Rezeptoren oder Mitochondrien sowie biologisch wirksame Substanzen wie Proteine, Lipide, Kohlehydrate und Nukleinsäuren. Alle Lebensformen auf der Erde haben einen genetischen Code aus Nukleotiden, den Bausteinen von DNA und RNA, und konstruieren bzw. verwenden Aminosäuren als Bausteine von Proteinen. Pflanzen und Mikroorganismen können dabei alle Aminosäuren synthetisieren, die sie selbst benötigen, Menschen und Tiere nicht („essentielle Aminosäuren“), Viren bestehen nur aus Erbgut und Proteinhülle*.

Die gemeinsamen funktionellen Voraussetzungen bestehen aus einer Reihe von überwiegend thermodynamischen Gesetzmäßigkeiten wie Phasenübergänge und Reaktionsdiffusionsgleichungen, enzymatisch katalysierte Reaktionen, elektrische Potenziale und Kationenströme, passive Diffusion und aktiver Transport. Ununterbrochen sorgen diese im Kern chemischen und physikalischen, im Ergebnis sensorischen und motorischen, anabolen und katabolen Prozesse dafür, dass der Organismus aktiv und funktionsfähig bleibt – lebendig eben. Erst im Tod ist Stillstand.

Die Idee eines beständigen inneren Gleichgewichts lebendiger Organismen („milieu intérieur“) stammt vom französischen Arzt und Physiologen Claude Bernard (1813-1878), geht aber bereits auf vorsokratische Vorstellungen von Gleichgewicht, Harmonie und Regulation zurück. Heute wird vor allem die aktive, hochflexible Leistung der selbstregulierenden Erhaltung (Homöostase) und Wiederherstellung optimaler Zustände (Allostase) betont („stability through change“). Der amerikanische Physiologe Walter Cannon (1871-1945; er beschrieb übrigens auch „psychogene Tode“, siehe unten) nannte dies „the wisdom of the body“. Eine optimierte Adaptivität durch Stabilität einerseits und Flexibilität andererseits erhöht die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Organismus enorm.

Nicht nur die Allostase, sondern auch die Homöostase werden durch permanente Anpassung eines hochkomplexen Zusammenspiels unzähliger Stellgrößen erreicht („allostatische Orchestrierung“), und zwar in vielen verschiedenen Qualitäten (pH-Stabilität, sensomotorisches Gleichgewicht, entspannter Wachzustand) und gegenüber vielen verschiedenen Anforderungen (oxidativer Stress, Hunger, aggressiver Hund). Um das innere Gleichgewicht halten oder wiederherstellen zu können, greifen sowohl „biologische“ als auch „psychologische“ Prozesse (die man streng genommen gar nicht trennen kann) auf einen ganzen Werkzeugkasten flexibler Anpassungs- und Abwehrstrategien zurück, z.B. bezüglich Genexpression, Membrandurchlässigkeit, Sollwertverstellungen, neuronale Feuerungsraten und Konnektivität, Feedback-Hemmungen oder Feedback-Verstärkungen. Wie in allen komplexen Systemen sind dabei multidirektionale Regulierungen möglich. So kann etwa die Wahrnehmung die Erwartung („bottom up“) modifizieren, aber auch die Erwartung die Wahrnehmung („top-down“). Schnelle Mediatoren der Homöostase und Allostase sind z.B. das vegetative Nervensystem oder pro- und antiinflammatorische Zytokine. Langzeitstrategien sind z.B. Konditionierung, Habituation und Lernen, was sich z.B. in Antikörpertitern, An- oder Abschaltung von Genen oder neuronalen Verknüpfungen widerspiegelt. Zellteilung, Atmung, Fortpflanzung, Wachen und Schlafen u.v.m. folgen dabei teilweise relativ unabhängigen endogene Rhythmen und zusätzlich exogenen Zeitgebern, die überwiegend der Erdrotation folgen.

All diese Mechanismen sorgen dafür, dass ein Organismus ruhig wie ein Dampfer vor sich hintuckert, gleichzeitig aber wendig wie ein Segelboot auf Störungen reagiert, gegebenenfalls wie ein U-Boot abtaucht oder wie ein Kanonenboot angreift. Und natürlich wird der Dampfer auch regelmäßig gewartet und beschädigte Teile ausgetauscht.

Regeneration und Reparatur

Insbesondere gegen Noxen, Krankheiten und Verletzungen nutzen Organismen eine Vielzahl von Umbau-, Reparatur- und Abwehrmechanismen.

Anders als Wirbeltiere können Pflanzen und viele wirbellose Tiere verlorene Körperteile wie Gliedmaßen, Augen oder auch Teile von inneren Organen oft vollständig regenerieren. Dabei kommt es in der Regel zu einer gewissen Dedifferenzierung bereits ausdifferenzierter Zellen, die aber nicht notwendigerweise zurück zum pluripotenten Entwicklungsstadium erfolgen muss. Viele Pflanzen besitzen dafür an ihren Spross- und Wurzelspitzen einen undifferenzierten, potenziell unbegrenzt teilungsfähigen Gewebetyp (Meristem). Bakterien, perennierende Pflanzen, und einige einfache tierische Organismen wie die Qualle Turritopsis dohrnii sind - biologisch betrachtet - sogar potenziell unsterblich, weil sie sich durch Teilung bzw. Sprossung mittels vegetativer (asexueller) Reproduktion immer wieder mit identischem Erbgut verjüngen.

Bei Wirbeltieren wie dem Menschen gibt es für kleinere Schäden differenzierte Reparaturmechanismen wie die DNA Damage Response oder die Fibroblastensprossung. Menschliche Stammzellen können je nach Umgebungsmilieu mittels einer noch nicht endgültig geklärten asymmetrischen Zellteilung relativ unbegrenzt Tochterzellen bilden. Embryonale Stammzellen können sich dabei sogar in jegliches Gewebe, adulte Stammzellen in bestimmte Gewebetypen entwickeln. In begrenztem Umfang können sich auch ausdifferenzierte Zellen teilen. Leber und Hautzellen können sich zum Beispiel gut regenerieren, teilweise mit etwas weniger funktionstüchtigem Narbengewebe. Auch im Zellinneren findet eine permanente Regeneration statt, Proteine werden abgebaut und neu synthetisiert, Nahrungsbestandteile integriert. Anabole Vorgänge finden bei Menschen und anderen Tieren bevorzugt im entspannten Wachzustand und im Schlaf statt, bei den meisten Arten schlafen Neugeborene länger als Erwachsene. Schlafdeprivation auf Dauer ist bei fast allen Arten tödlich**.

Zellbiologen haben errechnet, dass sich der menschliche Körper etwa alle sieben bis zehn Jahre „erneuert“, natürlich Schritt für Schritt und je nach Zelltyp unterschiedlich schnell: Dünndarmgewebe wird alle zwei bis vier Tage ersetzt, Lungenbläschen alle acht Tage. Fettzellen leben acht Jahre, Knochenzellen zehn Jahre. Je nach Alter werden jährlich 0,5-1% menschlicher Herzmuskelzellen neu gebildet, so dass das Herz selbst im hohen Alter immer noch mit rund 60% seiner ursprünglichen Zellen arbeitet. Die Rohstoffe für diese Regeneration wandern quasi durch uns hindurch: Der menschliche Organismus besteht – wie die meisten Lebewesen – zu über 99% aus Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Kohlenstoff, die aus Atmosphäre, Gestein und in letzter Konsequenz aus dem Weltall stammen, über Luft und Nahrung in unserem Körper, am Ende wieder im Erdreich und von dort wieder in der Nahrung landen. Bis zur letzten Mahlzeit.

Leben und Tod

Trotz all dieser „Bemühungen“: Die meisten Ein- und Mehrzeller sterben irgendwann. Der Tod ist paradoxerweise sogar der konsequenteste Ausdruck von Leben: Dadurch werden Platz und Materie für nachfolgendes Leben geschaffen.  

Einzelne Zellen sterben in der Regel durch (Auto-)Lyse oder Verlust bzw. Aufgeben ihrer Teilungsfähigkeit (Zellseneszenz). Das Signal dazu entsteht aus der Verkürzung der Telomere (Chromosomen-Endstücke) bei jedem Zellteilungsvorgang. Nach ca. 52 Teilungsvorgängen, der so genannten Hayflick-Grenze, ist die „replikative Seneszenz“ erreicht, es kommt zum programmierten Zelltod (Apoptose). Das Altern des Gesamtorganismus bis hin zum wissenschaftlich etwas vage definierten Tod durch „Altersschwäche“ (die Medizin versucht in der Regel, eine konkretere Todesursache wie Herzversagen festzumachen) geschieht durch eine umfassende physiologische Altersatrophie mit Verringerung der Organ- und Gewebsmasse und damit einhergehenden Funktionseinschränkungen. Pluripotente Stammzellen und bestimmte Krebszellen können sich in Zellkulturen dagegen unbegrenzt oft teilen und werden dadurch sozusagen „unsterblich“. Beide verfügen über das Enzym Telomerase, das die Telomere ohne Hayflick-Grenze erhält***. Zellen können auch unabhängig von der Anzahl ihrer Teilungen durch Nekrose sterben, etwa durch Substratmangel, DNA-Schäden, Strahlung, reaktive Sauerstoffspezies, durch Proteindenaturierung aufgrund von Giften, Hitze, Viren oder durch schiere Verdrängung durch invasive Krebszellen. Komplexere Organismen sterben durch die unumkehrbare Desintegration lebensnotwendiger Organe, wenn äußere Einwirkungen einschließlich Krankheiten unterschiedlichster Wirkmechanismen das Absterben hinreichend vieler Zellen auslösen – das Territorium der Medizin.

Eine ungewöhnliche Art zu sterben, die nur bei Menschen beschrieben ist, ist der Tod durch (Auto-) Suggestion oder durch extreme seelische Belastungen: Bei so genannten „Voodoo“-, psychogenen oder psychosomatischen Todesfällen sterben Menschen, nachdem sie einen großen Schock erlitten hatten oder meinten, verflucht oder vergiftet zu sein oder ein Tabu gebrochen zu haben. Als Gründe dafür werden extreme autonome Dysregulationen angenommen. Einigermaßen gut verstanden wird die Pathophysiologie des „Tako-Tsubo-“ bzw. „Broken Heart Syndroms“, bei dem eine ungewöhnlich große und schnelle Anflutung von Katecholaminen zu Koronarspasmen und Kardiomyopathie führt.

Leben und Gefahr

Ein Leben ohne Gefahr gibt es nicht. Teilweise sind Herausforderungen sogar evolutorisch von Vorteil. Würden wir keimfrei aufwachsen, hätten wir ein naives und unwirksames Immunsystem. Könnten wir Schicksalsschläge voraussehen und vermeiden, wären wir möglicherweise unglücklicher und weniger belastbar (man spricht z.B. von „posttraumatic growth“ – allerdings ist diese Beobachtung nicht verallgemeinerbar und zuweilen zynisch, denn es gibt auch Lebensumstände, die Menschen zermürben und zerbrechen).

Ganz grob unterscheidet man positive Herausforderungen („Eustress“), Alltagsstressoren („Distress“) und überwältigende Gefahren („Traumata“), zeitlich begrenzten akuten sowie chronischen Stress. Stress kann sowohl intraindividuell (Schmerz, Psychose), von anderen Lebewesen (Bakterien, Attentäter) als auch von der unbelebten Natur (Erdbeben) ausgehen. Stress wird sehr unterschiedlich wahrgenommen. Wir können ihm z.B. mit einer „dicken Haut“ oder aber mit „schwachen Nerven“ entgegentreten: Es gibt Vulnerabilitätsfaktoren wie Angst und Resilienzfaktoren wie ein stabiler psychosozialer Kontext, Sinnorientierung und Humor. Dennoch gibt es durchaus auch objektive Stressindikatoren: Am belastendsten ist menschengemachter Stress, der mit Hilflosigkeitserleben und potenzieller Lebensgefahr einhergeht (und damit das so genannte „Trauma-A-Kriterium“ erfüllt). Dauerstress, der sich aus verschiedenen biopsychosozialen Komponenten zusammensetzt, bezeichnet man als „allostatic load“.

Menschliche Reaktionen auf Stress sind höchst lebendige „Ganzkörperereignisse“, die ebenfalls die Überlebenswahrscheinlichkeit erhöhen. Sie betreffen u.a. Kreislaufparameter, Muskeltonus, Hormonausschüttungen, automatisierte Affekte, Gedanken und Verhaltensweisen. Akute Stressreaktionen funktionieren nach den Grundprinzipien Kampf=Fight, Flucht=Flight und Totstellen=Freeze (etwas geschlechtsabhängig wurde auch der Modus Tend-and-Befriend beschrieben, wenn wir uns eher mit dem Stressor identifizieren, um etwa unseren Nachwuchs nicht zu gefährden). Chronische Stressreaktionen laufen etwas subtiler ab, z.B. bei einfachen Organismen über eine Veränderung der Außengrenze oder des Nährstoff-Metabolismus, ab den Pflanzen schon über ein Immunsystem, und ab Reptilien und Vögeln über die HPA-Achse und das ZNS (z.B. in Form neuer Verknüpfungen). Bei Menschen bewirkt Stress auch kognitive Veränderungen, v.a. in Bezug auf situative Bewertungen, erlernte Konsequenzen für zukünftiges Handeln und die Entwicklung komplexer Schutzsysteme (Waffen, Festungen, Impfungen).

Für eine sinnvolle Allostase ist es wichtig, dass die Bedrohung kein „Dauerbetriebsmodus“ ist, sondern irgendwann nachlässt, damit der Organismus sich regenerieren und wieder anderen Aufgaben wie Stoffwechsel und Fortpflanzung widmen kann. Stress wird schädlich, wenn entweder Stressoren so überwältigend oder die Stressreaktionen so disproportional sind, dass der Organismus mehr Schaden als Nutzen nimmt, wenn sich der Organismus keine Habituation erlaubt, sondern vielmehr die Reiz- und Reaktionsschwellen senkt (Sensitivierung).

Leben und Geist: "Mind in Life"

Die Kognitionswissenschaft ist eine eher junge, sehr interdisziplinäre Disziplin, mit Impulsen aus den Neurowissenschaften einschl. künstlicher Intelligenz, Psychologie, Linguistik, Anthropologie und Philosophie (die man hier „Philosophie des Geistes/ philosophy of mind“ nennt). Aus all deren Perspektiven und mit all deren Werkzeugen beschäftigt sie sich mit dem bewussten und unbewussten Erleben, der Verarbeitung von Informationen und dem Verhältnis kognitiver Prozesse zum Körper.

Dabei lassen die modernen Kognitionswissenschaften unser anthropozentrisches Selbstverständnis ganz schön ins Wanken geraten. Einfache kognitive Fähigkeiten wie Sensorik und Motorik, aus denen sich auch so etwas wie zielgerichtetes Handeln ergibt, sind nämlich bei allen Lebensformen zu finden. Bakterien beispielsweise erkennen die Zuckerkonzentration und schwimmen dem höheren Wert entgegen. Pflanzen und Tiere kommunizieren, bei manchen Tierarten wurde sogar ein basales Sprachverständnis belegt. Offenbar gelingen Koordination, Orientierung, Kommunikation, Emotion, Motivation, Volition, Urteilen, Gedächtnis, Lernen und Sprache in rudimentärer Form vielen Lebens-formen. Viele Philosophen und Physiologen, z.B. Walter Cannon, Maurice Merleau-Ponty, Hans Jonas, Humberto Maturana, Francisco Varela, Shaun Gallagher oder Evan Thompson (um nur einige zu nennen) beschreiben daher eine eigene „Intelligenz“ bzw. „Intentionalität“ des lebendigen Körpers (lived body), der basale kognitive Funktionen auch ohne Nervensystem leistet: Where there is life, there is mind.

Denn selbst wenn es im Hinblick auf den menschlichen Geist einen bemerkenswerten Sprung gegeben haben mag – es würde den Gesetzen der Evolution widersprechen, wenn alle anderen Lebewesen stumpfsinnig wären und nur der Mensch quasi vom Himmel gefallenen Verstand aufwiese. Lebewesen unterscheiden sich ja ganz überwiegend nicht prinzipiell, sondern graduell, auch wenn wir einige „missing links“ in Entwicklungsreihen noch nicht kennen. Denn auch die Kognition funktioniert offenbar nach den Prinzipien der Selbst-Organisation und Autopoesis komplexer Systeme. Auch sie erreicht durch Sensoren, Effektoren, deren momentane Kombinationen und langfristige Vernetzungen Persistenz und Optimierung. Es könnte also sein, dass „Leben“ und „Denken“ nicht zu trennen sind, und dass letztlich selbst unsere „menschlichen“ Besonderheiten wie Retrospektion, Antizipation, Selbst- bzw. Identitätsbewusstsein „nur“ Ausdifferenzierungen einer äußerst dynamischen Interaktion zwischen Umwelt und Körper (in unserem Fall speziell des Nervensystems) sind. Man spricht deshalb von 4E-Kognition („embodied, embedded, enactive, and extended“): Living is sense-making.

Anders als die Vorstellung, der Geist bestehe aus bloßen Neuronenentladungen, und auch die Umwelt sei nichts weiter als ihre rein symbolische „Computer“-Repräsentation im Gehirn, aber auch anders als die Vorstellung von einem nicht-materiellen „Anderen“, das den Körper gleichsam „erweckt“ oder „beseelt“, überwindet eine enaktivistische Position dieses dualistische „Entweder-Oder“. Sie erlaubt die wertschätzende Integration des sicht- und messbaren Körperlich-Materiellen und des unhintergehbaren (Er-)Lebens/Erfahrens.

„Living is sense-making.“

Francesco Varela

Ökologie

Wir teilen also das „lebendig sein“ mit der gesamten belebten Natur, mit Pflanzen, Pilzen und Tieren, vom Einzeller bis zu den Säugetieren, zu denen wir Menschen ja gehören. Dabei sind wir Säugetiere, was unsere Vielfalt, Anzahl und Biomasse betrifft, erheblich in der Minderzahl, verglichen mit Insekten, Pflanzen, und Bakterien. Insgesamt sind derzeit knapp 2 Millionen bekannter Arten auf der Erde beschrieben, einschließlich unbekannter Arten geht man von bis zu 100 Millionen aus.

Wir leben mit diesen anderen Lebensformen zusammen, und wir sind auf sie angewiesen. Wir atmen den von Pflanzen produzierten Sauerstoff, ernähren uns von Tieren und von Pflanzen, die in Erde gedeihen, in der wiederum Milliarden Mikrooganismen in jeder Hand voll stecken. Noch enger, quasi symbiotisch, leben wir zusammen mit ca. 10 hoch 14 Bakterien, die u.a. Mund, Darm und Haut bevölkern. Sie fördern die Abwehr, die Aufnahme von Nährstoffen und bauen Ballast- und Giftstoffe ab; ca. 30% der Stoffwechselprodukte im Blut sind letztlich mikrobieller Herkunft.

In Ökosystemen profitieren Lebewesen grundsätzlich vom Schutz oder der Energie anderer Lebensformen. Sie funktionieren wie eigene, besonders große, komplexe Organismen, allerdings mit meist variablen Außengrenzen. Auch sie haben Mechanismen, um sich zu regulieren, zu entwickeln und zu überdauern; auch sie können sterben. Als lebendige Systeme kann man auch Schwärme, Rudel, Familien, Staaten, Gesellschaften begreifen, die (im übertragenen Sinne) über Außengrenzen und Stoffwechsel verfügen. Auch solche „Superorganismen“ sind reizbar und reaktiv, regulieren sich, entwickeln sich, pflanzen sich unter der Weitergabe von Information fort und können enden. Auch solche Superorganismen sind mit anderen Systemen verwoben, stehen mit ihnen in Konkurrenz und sind wechselseitig voneinander abhängig. 

Ernstzunehmende Konkurrenten oder Feinde unter den anderen Lebewesen hat gerade der Mensch nur noch wenige. Mithilfe seiner körperlichen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten hat er seine ökologische Nische fast auf die gesamte Erde ausgedehnt und denkt sogar darüber nach, den Weltraum zu besiedeln. Am bedrohlichsten für den Menschen sind andere Menschen (Gewalt, Überbevölkerung und Umweltzerstörung) und Kleinstlebensformen, die zunehmend multiresistenten Bakterien und die äußerst wandlungsfähigen und durchaus manipulierbaren Viren – siehe SARS-2*. Die Anpassung unserer biologischen Voraussetzungen erfolgt möglicherweise zu langsam für das Tempo und den Hunger des Anthropozän.

Bedeutung für die Medizin - nicht nur für die anthropologische

Menschen sind also zeitlich und räumlich definierte, komplexe Organismen, die innerhalb kleiner Gruppen und ökologischer Systeme leben und sterben. Sie können sich durch eine Vielzahl körperlicher und psychischer Regulationsmöglichkeiten an ihre Umwelt anpassen und sie gestalten. Dabei „funktionieren“ sie in vielerlei Hinsicht wie alle anderen Lebewesen, mit evolutorisch alten Systemen, Reflexen und Abhängigkeiten. Sie verfügen aber zusätzlich über besonders ausgeprägte Fähigkeiten der Kommunikation, Retrospektion, Antizipation und ein Selbst-Bewusstsein, weshalb sie besonders aktiv und fundamental in ihr Ökosystem eingreifen. Gerade ihr „Geist“, ihre Neugier, ihr Gestaltungs- und Fortschrittswillen bergen spezielle Chancen und Risiken, auch und insbesondere in der Medizin.

Wie alle lebenden Organismen sind auch Menschen anfällig für Fehlfunktionen, Verletzungen, Degeneration. Körperliche Erkrankungen betreffen z.B. Wahrnehmung, Bewegung, Kreislauf, Stoffwechsel, Stabilität und Elastizität des Stützgerüsts oder das Erbgut. Aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten können speziell Menschen an psychischen Erkrankungen leiden, die Antrieb, Urteilskraft, Affektregulation, Moralempfinden oder Realitäts- und schließlich auch Identitätssinn beeinträchtigen. Diese kognitiven Fähigkeiten können wiederum durch innere oder äußere Einflüsse beeinträchtigt werden, z.B. Schmerzen, Schlafmangel oder Dauerstress. Aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten können Menschen Erkrankungen einerseits besonders gut bewältigen, wenn sie ihr z.B. Verhalten ändern oder eine Medizin erfinden. Sie können aber auch besonders stark unter Erkrankungen leiden, wenn sie sie als Kränkung, Strafe oder als stark Lebensqualität-einschränkend empfinden. Die menschliche Vorstellungskraft, Erleben und Erfahrung sind die Basis für medizinisch so hochrelevante Phänomene wie Nocebo- oder Placeboeffekte.

Als Reaktion auf ihre Fehlfunktionen und Fähigkeiten haben sich Menschen – in fast allen Fällen gilt: zum Glück – eine Medizin ausgedacht, die regelmäßig in Lebensvorgänge eingreift, von der Geburtenkontrolle über die Antibiotikatherapie bis zur Organtransplantation, von der Präimplantationsdiagnostik bis zur CRISPR-Gentherapie. Die Möglichkeiten von Vorstellungskraft und Vernetzung nutzt sie dabei noch verhältnismäßig wenig. Gentherapien, synthetische Biologie, künstliche Intelligenz, Neuroenhancement, (Nano-)Robotik und die Vision einer physischen Unsterblichkeit durch Klonen, Kryonik, Kybernetik oder Mind Uploading sind aber auch mit schwer kalkulierbaren Risiken behaftet.

Eine anthropologisch gedachte und praktizierte Medizin berücksichtigt die allgemeinen ebenso wie die besonderen Eigenschaften menschlicher Organismen einschließlich des menschlichen Geistes sowie ihre Einbettung in familiäre, politisch-kulturelle und ökologische Systeme. Einzelnen Patienten gegenüber nutzt sie bei der Prävention und Bewältigung von Krankheiten das „typisch Menschliche“ und das „ganz Persönliche“ und stellt sich auch ihren existenziellen Fragen - zum Beispiel, wenn es ums Sterben geht. Jungen Ärzt*innen vermittelt sie die Grundlagen der Medizin nicht nur anhand von Leichen, Physik und Chemie, sondern begreift die Biologie als ihre Basiswissenschaft. Darüber hinaus widmet sie sich Fragen der Verantwortung gegenüber späteren Generationen und größerer Systeme, letztlich des globalen Überlebens. Daher ist – um nicht nur mit Albert Schweitzer anzufangen, sondern auch zu schließen – die „Ehrfurcht vor dem Leben“ eines ihrer Grundprinzipien.

*Es ist allerdings umstritten, ob Viren zu den „Lebewesen“ gehören, denn sie nutzen ja Stoffwechsel und Fortpflanzungsmöglichkeiten ihres Wirts. Obwohl sie nur aus DNA bzw. RNA und einer Proteinhülle bestehen, sind sie zum Teil erstaunlich stabil. Innerhalb von Wirtszellen replizieren sie sich so schnell und zahlreich, dass sie hohe Mutationschancen bzw. -risiken haben. In der Gentechnik werden virale Vektoren verwendet, um genetisches Material in Zellen zu einzubringen. Dank ihrer Wandelbarkeit werden Viren für den Menschen mal gefährlicher, mal harmloser; mit unseren Gegenmaßnahmen hinken wir immer hinterher. Viren, diese ubiquitär vorhandenen Erbgut-Überraschungs-Päckchen, greifen in die Evolution als Entwicklungs-Booster, Regulierer und Zerstörer ein.

**Die seltene, durch Prionen übertragene und vererbbare letale familiäre Insomnie ist eine spongiforme Enzephalopathie, die nach spätestens zwei Jahren zum Tod führt. Es gibt aber auch das Phänomen des so genannten „Halbhirnschlafs“ (unihemispheric slow-wave sleep, USWS), z.B. bei Delfinen, Walen und Vögeln: Nur eine der beiden Gehirnhälften schläft, nur ein Auge wird geschlossen, während die andere aktiv bleibt und die Umgebung weiter wahrgenommen werden kann. Praktisch, nicht wahr?


***Die älteste bekannte tierische Zelllinie ist vermutlich das Sticker-Sarkom, ein vermutlich tausende Jahre alter infektiöser Hunde-Genitaltumor natürlichen Ursprungs; die älteste menschliche Zelllinie („HeLa“) stammt aus dem Cervixkarzinom der 1951 verstorbenen Amerikanerin Henrietta Lacks.

Constanze Hausteiner-Wiehle

und Matthias Wiehle







Literatur und Links



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