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HELMUTH PLESSNER

HELMUTH PLESSNER

(1892 - 1985)



„Ein Mensch ist immer zugleich Leib … und hat diesen Leib als diesen Körper.“
Helmuth Plessner. Lachen und Weinen. 1941



Die Biographie und das Gesamtwerk Plessners sind vielfältig und vielschichtig. Wir können in ihm vor allem einen Brückenbauer sehen - zwischen den Disziplinen, zwischen den Kulturen, zwischen den Epochen, zwischen den Lebewesen, zwischen Körper und Geist.

Der Arztsohn studierte Zoologie und Philosophie und gab schon während seiner frühen Jahre als Privatdozent, dann als außerordentlicher Professor für Philosophie in Köln eine Zeitschrift für die „Zusammenarbeit der Philosophie mit den Einzelwissenschaften” heraus, den “Philosophischen Anzeiger” (1925-1930). Wegen der jüdischen Abstammung seines getauften Vaters wurde er 1933 entlassen, lebte für einige Monate in Istanbul und lehrte dann an der Universität Groningen in den Niederlanden. Während der deutschen Besatzung musste er von 1943 bis 1945 in Utrecht und in Amsterdam im Untergrund leben, unterstützt von Freunden und Schülern. Nach dem Krieg wurde er Ordinarius für Philosophie in Groningen. 1951 wurde er auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Soziologie in Göttingen berufen. Nach seiner Rückkehr arbeitete er u.a. auch am Institut für Sozial-forschung in Frankfurt mit und wurde zum wichtigen Motor für den geistigen Wiederaufbau Deutsch-lands. Nach seiner Emeritierung war er ab 1962 der erste Theodor-Heuss-Stiftungsprofessor an der New School for Social Research in New York. Die Liste von Plessners Kontakten und Inspiratoren ist ebenso lang und beeindruckend wie sein Leben (er wurde fast 93 Jahre alt): Er arbeitete bei und mit (und rieb sich an) Weber, Husserl, Scheler, Heidegger, Schmitt, Horkheimer, Adorno, Habermas, Gehlen und vielen mehr.

Dem erhabenen, aber weltfremden Ideal des autonomen, denkenden, vernünftigen, quasi körperfreien Menschen, der der Welt der "Dinge" (einschließlich des Körpers) forschend gegenübersteht ("Ich denke, also bin ich") setzte Plessner ein bezogenes, leibverhaftetes, sinnliches und produktives Menschenbild entgegen. Statt dieses aber materialistisch auseinander zu montieren, setzte er beides miteinander in Verbindung, baute das Geistige gleichsam aus dem Lebendigen heraus auf. Er suchte "den Ausgleich zwischen dem Menschen als Naturding und dem Menschen als sittlich-geistiges Wesen". Genauso suchte er eine Verbindung zwischen Außen- und Innenwelt. Dafür prägte er den Begriff der „Mitwelt“: In ihr erfasst sich der Mensch zusammen mit anderen Menschen in Form größtmöglicher Momenthaftig-keit, Dynamik und Lebendigkeit. Der Brückenbauer Plessner dachte dabei besonders über die Bedeutung von Grenzen nach, die - mehr als bloße Ränder - das Innen und Außen nicht nur konstituie-ren, sondern dynamisch und aktiv gestalten („Grenzregulierung“) und ja auch zu beidem gehören. Grenzen schaffen außerdem jeweils typische, wiedererkennbare "Gestalten" und schaffen so räumliche und zeitliche Gegebenheiten (Plessner würde sagen: "Gesetztheiten"), also Positionen in der Welt. Dabei betonte er - ähnlich wie Viktor von Weizsäcker - den "Doppelaspekt", man könnte sagen: die "Doppelnatur" der Wahrnehmung, die immer zwischen dem äußeren Ding und seinem inneren Abbild hin- und herpendelt.

Exzentrische Positionalität, natürliche Künstlichkeit, vermittelte Unmittelbarkeit und utopischer Standort

Was ist der Mensch? Nach Ansicht Plessners unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen zuallererst durch seine „exzentrische Positionalität“: Pflanzliche Organismen beschreibt Plessner als offen, unbewusst, direkt mit der Umwelt im Kontakt stehend, quasi mit ihr verwurzelt und im Stoffwechsel verbunden. Tierische Organismen sind bereits zentralnervös organisiert, geschlossen, mobil und bewusst, aber noch nicht selbst-bewusst. Nur der Mensch kann reflexiv auf sich zurück-kommen, kann (eigentlich: muss! siehe unten) in hohem Maße "außer sich" und "miteinander" sein, über sich nachdenken, planen, sich entscheiden, sich entwickeln, sich mit der Umwelt“ verbinden und austauschen. An diese Position knüpfen sich laut Plessner drei „anthropologische Gesetze“, die unsere Neugier, unser Ringen und Streben, unsere Bedürfnisse nach Gestaltung, Ausdruck, Gemeinschaft erklären - und damit auch unser Angewiesensein auf Kultur:
Der Mensch gestaltet sich und die Welt viel intensiver als andere Lebewesen. Durch seine unvollkommenen Instinkte und körperlichen Fähigkeiten, seine fehlenden festen Standorte und Rangordnungen bei gleichzeitiger stetiger Suche nach Verbesserung und Erkenntnis muss er das auch: Nur durch Hilfsmittel und Werkzeuge erfriert er im Winter nicht, wehrt sich gegen Angriffe, fliegt in den Weltraum. Plessner nannte dies, als erstes anthropologisches Gesetz, die "natürliche Künstlichkeit" des Menschen.

Mit dem Gesetz der „vermittelten Unmittelbarkeit“ beschrieb Plessner die Beziehungen des Menschen zu seiner Außenwelt. Das Tier, das wie der Mensch ein Zentrum und eine Grenze besitzt, aber eben nicht selbst-bewusst ist, erlebt jede Beziehung als unmittelbar. Das tut der Mensch zunächst auch, aber dadurch, dass er über sich, über Geschichte, Motive etc. nachdenkt, wird er zusätzlich zum Beobachter und dadurch Vermittler zwischen sich selbst und anderen.

Und schließlich wies Plessner dem Menschen einen "utopischen Standort" zu. Das klingt weltumfassend und heimatlos zugleich: Der Mensch ist rastlos, suchend, überschreitet und zerstört immer wieder Erreichtes. Nichts Geschaffenes ist endgültig, nichts widerspruchslos. So entsteht Geschichte; Plessner erklärte so auch die Entstehung von Religionen, quasi als (Not-)Lösung für einen metaphysischen Fixpunkt.

„Im Vollzug wird unser Körper leibhafte Mitte unseres Verhaltens und vom Verhalten aus als ein skizzenhafter Entwurf unserer Art, in der Welt zu sein, verständlich.“

Helmuth Plessner. Die Frage nach der Conditio humana. 1976

Wie kann Plessner uns heutigen Ärzt*innen helfen? Nun, er baut immer noch Brücken! Er zeigt, dass gerade Ärzt*innen und auch Patient*innen sich eben nicht festlegen müssen oder auch nur können, ob sie nun „Materialisten“ oder „Humanisten“, „Biologisten“ oder „Idealisten“ sind. Stattdessen können (sollen!) sie die verschiedenen Standpunkte integrieren und zwischen ihnen hin- und herwechseln. Es gibt kein Entweder-Oder zwischen Geist und Körper, zwischen Innen und Außen. Es sind genau diese Polaritäten, die Menschen ausmachen. Sie erzeugen ein belebendes Spannungsfeld, ermöglichen Entwicklung, Dialog und Perspektivenwechsel - die Grundlagen einer guten Medizin. Besonders zentral für die tägliche ärztliche Arbeit ist sicherlich Plessners Polarität des Körpers, den man hat und den man durchaus objektiv betrachten, erforschen und bei Defekten und Funktionsstörungen reparieren sollte, der uns aber auch zu lebendigen, eben leib-haftigen Wesen macht, die eben nur in diesem Körper und durch diesen Körper sein können, mit ihm und an ihm Lebensspuren sammeln und durch ihn die Welt erleben können: Köstlich, schmerzhaft und sehr subjektiv. Aber gerade, wenn man krank wird, bedeutet das auch: Es gibt unbekannte, vielleicht beängstigende Erfahrungen; plötzlich bin ich nicht mehr unbeschwert in meinem Körper, sondern er meldet sich, muckt auf, wird zum Hindernis, zur Last, und damit wieder mehr zum Objekt. Frau Doktor, ich glaube mir fehlt irgendetwas…

Der vermittelten Unmittelbarkeit begegnen wir in der Medizin vor allem in den immer wieder neuen und auch immer wieder neu zu reflektierenden Arzt-Patient-Begegnungen, dem utopischen Standort in der Forschung, wenn sie wagt, erringt und scheitert. Besonders augenscheinlich stoßen wir Tag für Tag auf das Menschen-Merkmal der natürlichen Künstlichkeit: Nicht nur „im Großen“, in der Medizintechnik oder in der Gentechnik, auch „im Kleinen“ besteht die moderne Medizin ja zum großen Teil aus Regulierung und Optimierung, aus Kampf gegen Defekt, Altern und Tod; das fängt schon mit der Gabe von Aspirin und der Verordnung eines Hörgeräts an. Wir haben vielleicht (bisher) Aversionen gegen die Vorstellung von implantierten Hirnschrittmachern- und Speicherchips; Impfungen und künstliche Hüften aber gehören zum Alltag, Anti-Ageing und plastische Chirurgie gelten für manche als Ausdruck von Freiheit und Selbstbestimmung.

Interessierte Leser seien an die Helmuth-Plessner-Gesellschaft und mehrere gute Zusammenfassungen, Interpretationen und Weiterentwicklungen seiner Arbeiten verwiesen, die berechtigterweise in den letzten Jahren wieder vermehrt diskutiert werden.

Constanze Hausteiner-Wiehle

 



Literatur und Links



Bosch A. Leibphänomenologie vs. Philosophische Anthropologie: Hermann Schmitz und Helmuth Plessner. In: Plessner und die Neue Anthropologie. Metzler, in Vorbereitung

Bosch A. Exzentrische Positionalität. Eine Grundlagenkategorie mit aufschließender Kraft für Gegenwartsphänomene. Rezension und theoretischer Essay zu: Fischer, Joachim 2016: Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist. Zeitschrift für theoretische Soziologie (ZTS), Heft 1/2017 (6. Jg.) https://content-select.com/de/portal/media/view/5a451c56-3fd4-4416-b606-5b5ab0dd2d03

Fischer J. Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie der Philosophischen Anthropologie. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2000; 48 (2), 265-88. http://www.fischer-joachim.org/exzentrischepositionalitaet.pdf

Helmut Plessner Gesellschaft: http://helmuth-plessner.de/

Plessner H. Die Frage nach der Conditio humana. In: ders.: Die Frage nach der Conditio humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie. Fischer, Frankfurt 1976

Plessner H. Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Fischer, Frankfurt 1928

Plessner H. Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens. Fischer, Frankfurt 1941/1970

Wehrle M. Medium und Grenze: Der Leib als Kategorie der Intersubjektivität. Phänomenologie und Anthropologie im Dialog. https://core.ac.uk/download/pdf/34577489.pdf



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