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GESCHICHTE SEIN

GESCHICHTE SEIN:

HIS STORY, HER STORY, OUR STORY!

„People are trapped in history and history is trapped in them.“
James A. Baldwin 1955



Menschen sind als soziale auch geschichtliche Organismen durch und durch. Ohne Interaktion mit der Umwelt, vor allem mit den Mit-Menschen, entwickeln sich Körper und Geist nicht, sie sind gleichsam Geschichte. Zellen, gerade auch Nervenzellen, brauchen etwas Vorangehendes, ein Milieu oder Reize, die ihre Gestalt und Funktion immer wieder neu verändern. Geschichtlich sind unsere schon im Mutterleib beginnenden Erfahrungen: Sie prägen unser Verhältnis zu anderen, z.B. in der Ausprägung des Bindungsstils, aber auch unseren Körper. Insbesondere belastende frühe Erfahrungen von Verlusten über Vernachlässigung bis zu Missbrauch wirken sich auf Wachstum, Stressregulation und damit auf die Erkrankungswahrscheinlichkeit im Erwachsenenleben aus. Umgekehrt verbessern positive Körper- und stabile Beziehungserfahrungen die (körperliche und psychische, soweit sich das trennen lässt) Resilienz. Zur individuellen Geschichte eines Menschen gehören eben auch, ganz buchstäblich, die Narben und anderen Körperspuren des Lebens, seien es frühere Mangelernährung oder Verletzungserfahrungen – der Körper vergisst nicht. Sogar Zellen haben ein Gedächtnis: Ereignisse können das Erbgut epigenetisch verändern, meist durch DNA-Methylierung; unsere Immunität beruht auf Vorerfahrungen mit Noxen, die zur Bildung von passgenauen Antikörpern und T-Gedächtniszellen führen.
Als geschichtliche Wesen wachsen Menschen mit vielen überlieferten Geschichten auf, die ihr Selbst- und Weltverständnis und ihre Kultur bestimmen und die sie von Menschen aus anderen Weltgegenden und Kulturen unterscheiden. Die allermeisten dieser Geschichten sind (oder waren einmal) in irgendeiner Weise sinnvoll, etwa um ein Volk zusammenzuhalten oder Naturkatastrophen zu erklären. Sie sollten reflektiert, aber auch respektiert werden. Dazu kommt, dass die gesamte Menschheit aus ihrer Geschichte lernen kann, oder zumindest könnte. Deshalb ist nicht nur ein individuelles, sondern auch ein globales Geschichtsbewusstsein wichtig.



„Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muß man erzählen.
Das tun die Geisteswissenschaften: sie kompensieren Modernisierungsschäden, 
indem sie erzählen; und je mehr versachlicht wird, desto mehr – kompensatorisch – muß erzählt werden: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie. […] 
Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften, nämlich als erzählende Wissenschaften.“
Odo Marquard. Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. 1986
In der Medizin ist der alltäglichste und wichtigste Akt hinsichtlich der Geschichtlichkeit des Menschen die Anamnese (von altgriechisch aná=auf, mnémē=Gedächtnis, Erinnerung‘). Allzu oft wird diese allerdings als bloße Erhebung einer körperorientierten, aber beziehungsarmen Faktengeschichte missverstanden. Narrative Medizin dagegen achtet auf die gemeinsame Konstruktion einer Beziehungserfahrungsgeschichte durch Arzt und Patient– unter Beachtung der realitätssichernden faktischen Eckpunkte. Die Wiederholung der Anamnese und auch das wertvolle Instrument der Fremdanamnese führen uns dabei immer wieder vor Augen, dass Geschichte zu unterschiedlichen Zeitpunkten und aus unterschiedlichen Perspektiven anders erzählt wird. Das ganze Bild fügt sich oft erst aus Puzzleteilen zusammen. Erinnerung und Bewertung können sogar faktisch falsch sein – zu groß sind die Effekte von Suggestion und Verzerrung: Das beginnt mit der regelmäßigen Überschätzung von Befunden und dem Vergessen (eben nicht zwingend Verschweigen) von Vorerkrankungen (recall bias, hindsight bias, good old days bias) bis hin zum Erfinden von (Kranken-)Geschichten (Konfabulation, pseudologia phantastica), gelegentlich auch zur Induktion falscher Erinnerungen, z.B. durch ein manipulatives Umfeld und leider auch durch unreflektierte Psychotherapeuten (false memory syndrome).
Zunehmend bewusster wird in der Medizin das Wissen um die Grenzen, auch Chancen eines transkulturellen Blicks auf Patienten, die in anderen Geschichten aufgewachsen sind und die deshalb auch ihr gegenwärtiges Leid anders erleben und präsentieren. Und schließlich muss sich die Medizin auch ihrer eigenen Geschichte bewusst sein, und zwar nicht nur ihrer Erfolgsgeschichte, sondern auch ihrer unrühmlichen Irrtümer und Verbrechen, von verstümmelnden magischen Ritualen über persönlichkeitszerstörende Lobotomien bis hin zur Eugenik.

Peter Henningsen

und Constanze Hausteiner-Wiehle





Literatur und Links



https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_cognitive_biases
https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_memory_biases
Henningsen P. Neurologische Fallgeschichten: Literatur oder Forschungsgegenstand. In: Janz D. Krankengeschichte: Biographie - Geschichte - Dokumentation. Beiträge zur Medizinischen Anthropologie, Band 2. Königshausen und Neumann, Würzburg 1999
Jacobi RME. „Ja, aber nicht so.“ Das Erzählen der Krankengeschichte bei Viktor von Weizsäcker. Jahrbuch für Literatur und Medizin, Bd. 3. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2009, S. 141-162. 
Marquard O. Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. Vortrag vor der Westdeutschen Rektorenkonferenz. In: Ders., Apologie des Zufälligen, 1986, S. 105, 114
Pareés I, Saifee TA, Kassavetis P, Kojovic M, et al. Believing is perceiving: mismatch between self-report and actigraphy in psychogenic tremor Brain;135(Pt 1):117-23. https://www.researchgate.net/publication/51790914_Believing_is_perceiving_Mismatch_between_self-report_and_actigraphy_in_psychogenic_tremor#fullTextFileContent
Schaefert R, Hausteiner-Wiehle C. Anamneseerhebung. In: Rief W, Henningsen P. Psychosomatik und Verhaltensmedizin. Schattauer, Stuttgart 2015. https://www.researchgate.net/publication/305689189_Anamneseerhebung#fullTextFileContent
Shaw J. The Memory Illusion: Remembering, Forgetting, and the Science of False Memory. Random House, New York 2017.

Watson P. Ideen. Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne. Goldmann, München 2008

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