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ANTHROPOLOGISCHE MEDIZIN

ANTHROPOLOGISCHE MEDIZIN

ANTHROPOLOGISCHE MEDIZIN 
- WAS IST DAS?

Anthropologische Medizin interessiert sich für das, was die Humanmedizin zur HUMAN!Medizin macht. Es geht also um die Besonderheiten einer Medizin, die Krankheiten und Funktionsstörungen bei dieser Gattung Lebewesen auszeichnen. 

Die vielen biologischen, z.T. auch psychologischen und sozialen Gemeinsamkeiten, die Menschen mit Tieren, von der Maus bis zum Schimpansen, teilen, werden typischerweise in der sogenannten Biomedizin untersucht. Sie sind auch für die Anthropologische Medizin unverzichtbar wichtig - denn die Besonderheiten der HUMAN!Medizin sind zu einem nicht geringen Teil deckungsgleich mit einer Medizin auch anderer Lebewesen, wenn sich diese konsequent als Medizin lebender Organismen versteht – im Gegensatz zu einer Medizin, die sich orientiert an toten Körpern, Körperteilen oder an Zellhaufen in einer Petrischale. 
Dabei ist es für eine anthropologische Medizin nicht bedeutsam, welche Besonderheiten nun genau auch bei Tieren nachweisbar sind und welche nicht – sie hat sozusagen einen Fixfokus auf den Menschen.

Um welche auch medizinisch relevanten Besonderheiten es geht? An erster Stelle natürlich darum, dass Menschen in Gesundheit wie in Krankheit Subjekte sind, die ihre Welt und sich selbst individuell erleben und die Sprache haben, darüber mit anderen zu kommunizieren. Ein wichtiges Charakteristikum der Subjektivität kranker Menschen ist dabei das (Er-)Leiden, das Ausgeliefertsein und die Todes-Bedrohung, die mit Krankheiten einhergehen oder einhergehen können. 

Subjektivität und Selbsterleben finden nicht im luftleeren Raum statt: das Selbst ist in einem Leib gewissermaßen verkörpert und eingebettet in ständigen aktiven Interaktionen mit der sozialen und weiteren Umwelt. Insofern ist auch der Blick auf menschliche Beziehungen samt ihrer Geschichte, von der der Menschheitsgeschichte über die Primärfamilie bis hin zur Arzt-Patienten-Beziehung, konstitutiv für eine anthropologische Medizin. Ihr Therapieverständnis betont daher vor allem auch die systematische Wirkung zwischenmenschlicher Prozesse zwischen Behandler und Patient, seien sie verbaler oder anderer Art, z.B. über sog. Placeboeffekte oder über direkte Interaktionen wie in einer Körpertherapie.

WURZELN UND BEZÜGE



Ärzte und andere Vordenker haben anthropologische Medizin ab den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts  entwickelt, damals auch als Gegenperspektive zu einer sich immer weiter ausdifferenzierenden, überwiegend naturwissenschaftlich-technisch orientierten Medizin.



Viktor von Weizsäcker, ein Arzt und Philosoph, ist hier als Erster zu nennen – er ging so weit, über anthropologische Medizin hinaus eine medizinische Anthropologie zu skizzieren, also Bestimmungsgründe des Menschen im Allgemeinen aus der Beschreibung des kranken Menschen  zu entwickeln. Weitere Vordenker, deren Werk für eine anthropologische Medizin wichtig ist, sind Helmut Plessner, Hans Jonas, Maurice Merleau-Ponty, Kurt Goldstein, Paul Christian und andere – ein einigendes Band ist der Bezug auf die Phänomenologie, die Lehre von der Erkenntnisgewinnung aus unmittelbarer Anschauung der Erscheinungen. Allerdings: anthropologische Medizin   kann und will sich nicht primär auf Vordenker beziehen; sie ist als bewusst geschichtliche immer auch Gegenwartsmedizin. So gilt es, in einer anthropologischen Medizin auch moderne Entwicklungen der Bio-, Human-, Kognitions- und Neurowissenschaften zu rezipieren wie z.B. die „embodied, embedded, enactive and extended cognition (4E cognition)“, die v.a. die Interaktionen lebendiger Organismen als konstitutiv für Aktion, Kognition und damit Evolution ansieht, oder die computionalen Neurowissen-schaften, die das Gehirn als dynamische Vorhersagemaschine („predictive processing“) beschreiben – auf beides wird an anderer Stelle näher eingegangen.



Zusammenfassend versteht sich anthropologische Medizin als Teil der rationalen Medizin von heute, die sowohl an die Natur- als auch an die Geisteswissenschaften einschließlich der Kultur- und Entwicklungsgeschichte anknüpft und sich dabei bewusst zurückhaltend in Bezug auf esoterische und romantische Deutungen verhält.

UND WAS IST ANTHROPOLOGISCHE MEDIZIN NICHT?

Zunächst sollte die anthropologische Medizin kurz von der medizinischen Anthropologie abgegrenzt werden. Beider Perspektiven überlappen sich, es gibt aber auch wichtige Unterschiede. Medizinische Anthropologie, wie sie Viktor von Weizsäcker und seine Schüler propagiert haben, erhebt zumindest auch den Anspruch allgemeingültiger Aussagen über das Menschsein anhand einer Analyse des Krankseins. Stattdessen fokussiert anthropologische Medizin nur auf das spezifisch Menschliche im Kranksein, in Krankheiten und in der Medizin.
Anthropologische Medizin ist auch nicht das Gleiche wie „anthropological medicine“ - im Englischen entspricht das dem, was im Deutschen „Ethnomedizin“ genannt wird, also einem Blick auf Besonderheiten der Medizin in anderen, häufig traditionellen Kulturen.
Anthropologische Medizin hat trotz des gleichen Wortstamms nichts zu tun mit anthroposophischer Medizin, die auf Rudolf Steiner zurückgeht und in der z.B. Erkrankungen als Disharmonien der Wesensglieder des Menschen, als da sind physischer Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich-Organisation, verstanden werden.  
Mit narrativer Medizin teilt die anthropologische Medizin das Interesse für Erzählungen und Sprache als dem wesentlichen Ausdrucksmedium subjektiven Erlebens – sie geht, wie oben beschrieben, in ihren Ansatzpunkten aber deutlich darüber hinaus.
Denkrichtungen wie der Poststrukturalismus, Post- oder gar Transhumanismus gehen davon aus, dass das Subjekt ein Konstrukt oder ein Übergangsphänomen ist und irgendwann verschwindet „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (so der Philosoph Michel Foucault im letzten Satz seines Buches „Die Ordnung der Dinge“ von 1966). Im Gegensatz dazu vertritt die anthropologische Medizin die Auffassung, dass es überdauernde menschliche Charakteristika gibt, dass der Mensch – zumindest mittelfristig und bei allen evolutorischen und geschichtlichen Veränderungen der menschlichen Verfassung – eine konstante Lebensform ist und es sich lohnt, diese als eine relative Konstante zu untersuchen, zumindest im Hinblick auf die Humanmedizin
Und last not least: Anthropologische Medizin will zwar HUMAN!Medizin sein, sieht sich dabei aber natürlich nicht als alleinige Verfechterin humaner, menschengerechter Medizin – diese findet, so ist zumindest zu hoffen, auch an vielen anderen Orten statt. 

Peter Henningsen







Lteratur und Links



Fischer P, Gadebusch Bondio M, Berberat P (Hrsgb.). Literatur und Medizin – interdisziplinäre Beiträge zu den ‚Medical Humanities‘. Jahrbuch Literatur und Medizin. Beihefte, Band 2. Universitätsverlag Winter, Heidelberg, 2016.



Gahl KPG. Anthropologische Medizin als klinische Wissenschaft. Ethik in der Medizin 2011, 23: 67–71. https://www.viktor-von-weizsaecker-gesellschaft.de/assets/pdf/Menschenbild_med_Anthropologie.pdf



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